Frau Eckerle, seit Ende Juni meldet die Schweiz täglich neue Corona-Fallzahlen, die mal etwas über, mal etwas unter 100 liegen. Was bedeutet das?
Isabella Eckerle: Ich glaube, dass wir die jetzige Situation nicht mit dem Beginn der Krise vergleichen können. Einerseits haben sich viele Einflussfaktoren wie Testhäufigkeit, Diagnostik und Contact-Tracing verändert. Andererseits haben wir in den vergangenen Monaten sehr viel über das Virus dazugelernt. Etwa, dass eine Infektion auch mild und asymptomatisch verlaufen kann. Die hohen Schwankungen um die Zahl 100 herum bedeuten deshalb zunächst wenig. Es wird eine längere Zeit dauern, bis wir einen Trend erkennen können.
Die grosse «Welle» im Frühling konnte mit strikten Massnahmen in den Griff gebracht werden. Die Bevölkerung wird aber kritischer. In welche Richtung wird das gehen?
(lacht) Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Der Winter scheint aber zurzeit für alle eine Blackbox zu sein. Wir werden dann auch andere Atemwegserkrankungen wie die Influenza haben, die es schwieriger machen, das Coronavirus klinisch zu erfassen. Wir werden breiter testen müssen. Das wird eine logistische Herausforderung, die wir wohl meistern werden können. Den grösseren Knackpunkt sehe ich aber beim menschlichen und psychologischen Faktor.
Wieso?
Es kommt zunehmend das Gefühl auf: Man ist müde und möchte nicht mehr. Die ganzen Einschränkungen der letzten Monate waren sehr belastend. Hinzu kommen die ganzen Verschwörungsmythen und jene, die gegen die Massnahmen rebellieren. Sie spielen in der Schweiz zwar nicht so eine grosse Rolle – in den USA sind diese Tendenzen aber besorgniserregend.
Sehen Sie kulturelle Unterschiede in der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie?
Ich habe das Gefühl, dass in Westeuropa die eigene Freiheit und Selbstbestimmung eine grössere Rolle spielt als man das weitläufig von asiatischen Ländern kennt. Deshalb macht es auch Sinn, dass wir hierzulande an die Vernunft der Menschen appellieren und sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch mit Unklarheiten, sensibilisiert. Unterschiede stelle ich auch dort fest, wo es eine Art kollektives Trauma gab. Die Bilder von überfüllten Spitälern in Italien oder China waren für viele ein Schock. Einen solchen Effekt hatten wir in der Schweiz nicht. In Genf waren von über 100 Intensivstationsplätzen rund 60 belegt. Das ist für die, die es mit ihren eigenen Augen sehen können, sehr schockierend. Medial hatte das aber nicht dieselbe Wirkung wie im Ausland.
Die Vernunft, die Sie ansprechen, klappte aber bei der Maske erst, als sie zur Pflicht wurde.
Ja, die Schweiz ist vielleicht in der Mitte. Wir sind hier nicht so folgsam, sind aber auch nicht besessen, die Freiheit auch gegen jegliche Vernunft zu verteidigen.
Weil wir auch ein bestimmtes Mass an Risiko anerkennen und akzeptieren?
Ja, schliesslich können wir nicht für immer im Lockdown sein. Das Ziel müsste sein, die Virus-Übertragung möglichst tief zu halten, so wie wir es im Mai hatten. Und wir dürfen es ruhig auch mal von der positiven Seite sehen: Wir haben das mit relativ einfachen Massnahmen wie Hygiene, Abstand und Maske erreicht. Wenn die Fallzahlen so im tiefen Bereich bleiben, können wir auch das Risiko von geöffneten Fitnesscentern oder Restaurants eingehen. Verzichten wir aber darauf, dann drohen aber kleine Feste, Hochzeiten – eigentlich jedes Treffen mit mehreren Menschen, vor allem in geschlossenen Räumen – zu einem Pulverfass zu werden.
Gilt das auch für die Urlaubsrückkehrer?
(Überlegt) Das ist schwierig zu sagen. Das Problem ist ja, dass man in die Ferien geht, um Familie und Freunde zu treffen. Kaum jemand fährt ins Ausland, um sich zu isolieren. Es ist deshalb wichtig, dass man auch im Urlaub nicht vergisst, dass das Virus noch immer da ist. Sonst droht das Sommerferienende tatsächlich, ein Pulverfass zu werden.
Nicht nur unsere Haltung zur Pandemie verändert sich, auch das Virus selbst mutiert. Was sind die aktuellen Erkenntnisse dazu?
Man kann heute sagen, dass das Sars-Cov-2-Virus von Anfang an schon an den Menschen angepasst war. Es ist schon «erfolgreich» genug und muss sich nicht mehr gross verändern. Solche Mutationen beobachten wir zwar, und es gibt gar Spekulationen, ob gewisse Oberflächenprotein-Veränderungen das Virus ansteckender gemacht haben. Das sind aber reine Laborergebnisse. Das theoretische Risiko, dass das Virus schlimmer wird, besteht. Aber es ist zurzeit nicht unser grösstes Problem. Das Virus, das wir jetzt haben, ist herausfordernd genug.
Vom Grippevirus «Influenza» weiss man aber, dass es sich jedes Jahr verändert. Das ist der Grund, wieso uns jeden Winter die Grippe droht und die Impfstoff-Entwicklung immer nachjustieren muss.
Ein solcher Mechanismus ist beim Coronavirus schwächer ausgeprägt. Beim Influenza-Virus gibt es viele verschiedene Varianten, die untereinander interagieren. Bei Sars-Cov-2 geht man aber davon aus, dass ein und derselbe Impfstoff auch für mutierte Varianten wirkt. Ein Problem könnte aber unser Immunsystem sein: Es wurde beobachtet, dass bei infizierten Personen nach einigen Wochen weniger Antikörper nachweisbar sind. Was das konkret heisst, weiss man noch nicht. Es ist auch unklar, ob andere Abwehrzelltypen eine Immunantwort liefern können.
Sind die Meldungen über den Moderna- oder Oxford-Impfstoff deshalb vielversprechend?
Ich würde noch nicht «vielversprechend» sagen. Die Meldungen liefern lediglich einen Grund, vorsichtig optimistisch zu sein (lacht). Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich bei den Studien über diese zwei Impfstoffe um erste Erkenntnisse an einer geringen Probandenanzahl handelt. Es ist schon mal gut, dass die Impfstoffe von Moderna und Oxford zunächst keine besorgniserregenden Nebenwirkungen gezeigt haben und prinzipiell eine Immunantwort auslösen können. Diese ist entweder genauso gut wie nach einer natürlichen Infektion – oder gar besser. Was man aber nicht weiss, ist, ob der Impfstoff tatsächlich schützt. Das wird derzeit getestet.
Auf welchen Impfstofftyp würden Sie wetten?
Es kann gut sein, dass in den nächsten Monaten mehrere Impfstoffe gute Ergebnisse liefern und unterschiedliche Technologien zur Anwendung kommen – oder es gar dazu kommt, dass ein Impfstoff für ältere Personen, ein anderer für immungeschwächte Personen besser geeignet ist. Ich würde deshalb nicht auf einen bestimmten Impfstoff wetten.