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Interview

«Keine Maturaprüfung wäre wie eine Tour de Suisse ohne letzte Etappe»

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Yves Flückiger (links) im vergangenen Herbst mit Nobelpreisträger Michel Mayor.Bild: EPA
Interview

«Keine Maturaprüfung wäre wie eine Tour de Suisse ohne letzte Etappe»

Yves Flückiger hofft, dass sich der Bundesrat für die Durchführung der schriftlichen Maturaprüfung in allen Kantonen entscheidet. Wenn man die Matura ohne Abschlussprüfung erhalten habe, bleibe ein Makel haften, sagt der Präsident der Schweizer Hochschulrektoren.
28.04.2020, 21:20
Kari Kälin / CH Media
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Er trat mit guten Vornoten zu den Schlussexamen an. Die Maturaprüfungen bereiteten Yves Flückiger keine schlaflosen Nächte. Auch der Sport habe ihm geholfen, sich auf den «Moment X» zu fokussieren, sagt der 64-jährige Wirtschaftsprofessor. Flückiger war Leichtathlet, 100 Meter legte er in 10,6 Sekunden zurück. In der Staffel errang er einen Schweizer Meistertitel. Flückiger ist Rektor der Universität Genf und Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizerischen Hochschulen. Auch er wartet gespannt, welche Position der Bundesrat zu den Maturaprüfungen einnimmt. Voraussichtlich am Mittwoch entscheidet er, ob die schriftlichen Examen in allen Kantonen stattfinden sollen oder nicht.

Yves Flückiger, Schüler fordern in Petitionen, im ganzen Land auf Maturaprüfungen zu verzichten. Sie führen gesundheitliche Gründe ins Feld und bangen um die Chancengleichheit nach wochenlangem Fernunterricht wegen des Corona-Lockdowns. Haben Sie Verständnis für diese Position?
Yves Flückiger:
Ja. Wir alle leben momentan in einer Ausnahmesituation. Auch an der Universität Genf sind wir mit der Corona-Problematik konfrontiert. Wir werden aber am Ende des Semesters Tausende Prüfungen durchführen. Bei den schriftlichen Prüfungen werden wir Abstandsregeln einhalten. Geplant sind vermehrt auch Tests, bei denen die Studenten die Unterlagen benutzen dürfen. Mündliche Prüfungen finden via Videokonferenz statt.

Die Schüler, welche die Maturaprüfungen streichen wollen, argumentieren auch mit psychologischem Stress.
Die ganze Gesellschaft ist derzeit grossem Stress ausgesetzt. Man hört so viel über die Pandemie, manche bangen um die eigene Gesundheit, jene der Eltern, Grosseltern und nahestehenden Personen. Auch die wirtschaftlichen Perspektiven sind ungewiss. Gerade bei Wackelkandidaten dürften sich die Ängste vor einem Scheitern verstärken. Ich habe grosses Vertrauen in die Kantone, die Schulen und die Lehrer, dass sie dem Ausnahmezustand Rechnung tragen und in der Lage sind, die Maturaprüfungen anzupassen und einen fairen Ablauf sicherzustellen. Man könnte zum Beispiel auf Fragen zum Stoff verzichten, der im Fernunterricht vermittelt wurde.

Grosse Kantone wie Bern, Zürich, Waadt oder Genf möchten auf schriftliche und mündliche Prüfungen verzichten. Andere Kantone wollen bloss die schriftlichen durchführen, nur wenige beide. Was halten Sie vom föderalen Wirrwarr?
Persönlich fände ich es gut, wenn zumindest in allen Kantonen die schriftlichen Prüfungen stattfänden. Der Entscheid zu den schriftlichen Prüfungen liegt letztlich beim Bundesrat. Ich hoffe, dass er sich für die Durchführung entscheidet.

Wo liegt das Problem, wenn der Bundesrat den Kantonen Spielraum zu den Abschlussprüfungen überlässt?
Die Leistungen wären weniger gut vergleichbar. Die Schüler würden nicht auf eine einheitliche Weise beurteilt, es würden nicht überall die gleichen Anforderungen gestellt.

Verliert eine Matura ohne Abschlussprüfungen an Wert?
Wenn die Studenten einst ihren Hochschulabschluss machen, wird man vergessen haben, wie sie im Jahr 2020 zur Matura gekommen sind. Allerdings haben die Abschlussprüfungen einen symbolischen Wert. Sie markieren das Ende eines wichtigen Abschnitts in einer Bildungskarriere. Es bleibt ein Makel haften, wenn man ohne Abschlussprüfung die Matura erhalten hat. Es ist, als ob man die Tour de Suisse ohne die letzte Etappe beendet hätte.

Zweifeln Sie an der Studierfähigkeit von Schülern, die ohne Abschlussprüfung ein Hochschulstudium in Angriff nehmen?
Da habe ich keine Bedenken. Wer es bis in die Abschlussklasse geschafft hat, sollte auch in der Lage sein, ein Studium zu bestreiten. Allerdings braucht es für die Maturaprüfung Kompetenzen, die nachher an der Hochschule gefragt sind: zum Beispiel das Repetieren eines grossen Lerninhalts für eine Prüfung. Ich halte es auch für denkbar, dass die Schüler an der Universität gewisse Lücken auffüllen müssen, die wegen der Corona-Pause entstanden sind. Das ist aber machbar. Bei einem Verzicht auf die Maturaprüfungen sehe ich aber noch ein anderes Problem.

Welches?
Es gibt Jugendliche, die aufgrund ihrer Vornoten scheitern würden. Es gibt Jugendliche, die dank eines Sonderefforts bei den Abschlussprüfungen die Promotion schaffen. Es wäre ungerecht, wenn sie wegen der Pandemie dieser Möglichkeit beraubt würden. Es wäre auch nicht richtig, wenn bei Wackelkandidaten quasi am grünen Tisch verhandelt würde, ob man ihnen die Matura geben will oder nicht.

Was schlagen Sie vor?
Falls die Prüfungen wirklich flächendeckend abgesagt würden, braucht es für diese Schüler eine Ausnahmeregelung. Sie sollen die Abschlussprüfung ablegen und so ihr Können beweisen dürfen.

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