Herr Tanner, der Kanton Waadt ist der Corona-Hotspot der Schweiz. Wie kam es dazu?
Marcel Tanner: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wichtig zu erkennen ist, dass die Covid-Fallzahlen in der Romandie nicht erst seit gestern stärker ansteigen. Man erinnere sich an die Superspreader-Fälle von Verbier im Kanton Wallis. Der wirkt in der Westschweiz bis heute nach. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass Genf Anfang August die Massnahmen wieder verschärft hat und Nachtclubs wieder schliessen mussten. Was passiert, wenn in einem Kanton die Clubs schliessen? Man geht einfach dahin in den Ausgang, wo die Discos noch offen sind, über die Kantonsgrenze in die Waadt also.
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Warum hat die Waadtländer Regierung so lange zugewartet, bis sie ihre Massnahmen wieder angezogen hat?
Ich würde nicht sagen, dass die Regierung zu lange gewartet hat. Wissen Sie, in dieser Krise geht es darum, die Situation ständig zu beobachten und bei Bedarf entsprechend einzugreifen. Das hat man jetzt in der Waadt so gemacht. Man muss sehen, dass es wegen der langen Inkubationszeit immer etwas dauert, bis sich eine verstärkte Ansteckung in den Fallzahlen niederschlägt. Es ist also falsch, zu sagen, dass nicht reagiert wurde. Der angebrachte Zeitpunkt, etwas zu tun, der war jetzt.
Die Contact Tracer im Kanton Waadt sind überfordert. Sie sind nicht mehr in der Lage, Corona-Infektionsketten zurückzuverfolgen. Wie gravierend ist das?
Sehen Sie, auch hier muss ich relativieren. Sobald bemerkt wurde, dass in der Waadt die Contact Tracer nicht mehr nachkommen, wurde das Team auf 100 Personen aufgestockt. Die Kantone nehmen das Zurückverfolgen von Infektionsketten sehr ernst. Sie wissen, dass dies ein wichtiges Instrument ist, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Meiner Meinung nach leisten die Kantone hier einen grossen Effort.
Reichen die in der Waadt ergriffenen Massnahmen aus, um die Infektionszahlen im Kanton wieder zu drosseln?
Wie gesagt: Diese Krise ist nun mal «work in progress». Wir müssen verstehen, dass Massnahmen gelockert, angepasst, verschärft werden können. Dass mal Fehler passieren und dass aufgrund neuer Erkenntnisse unser Handeln stetig angepasst werden muss. Darum denke ich, ist es sicher richtig, dass Waadt diese zusätzlichen Massnahmen ergriffen hat. Sollte sich zeigen, dass sie nicht ausreichen, dann müssen sie nochmals angepasst werden.
In den Kantonen Zürich und Genf stiegen die täglichen Fallzahlen nach dem Lockdown wieder stark an. Nun scheinen sie sich offenbar zu stabilisieren. Ein positiver Trend?
Damit wäre ich vorerst noch vorsichtig. Ein kurzer Trend bedeutet noch keinen Richtungswechsel. Es ist eben nur ein Trend. Die Situation muss weiterhin überwacht werden. Sehr schön, aber einen vorzeitig grossen Applaus finde ich verfrüht.
Ermutigend und vorbildlich, wie die beiden Kantone Genf und Zürich ihre Fallzahlen stabilisieren konnten. Es zeigt, dass lokale Eindämmung ein gangbarer Weg ist. Bravo und danke allen Beteiligten 👏🙏 1/2 pic.twitter.com/x2KLtT6cqk
— Marcel Salathé (@marcelsalathe_d) September 15, 2020
Kann man denn schon sagen, was dazu führte, dass sich die Zahlen in Zürich und Genf etwas stabilisieren?
Nein, das wissen wir nicht. Übertragungsdynamiken sind immer multikausal. Tiefere Zahlen könnten damit zu tun haben, dass nun weniger Leute aus den Ferien zurückkehren und die Schule bereits seit zwei Wochen wieder läuft. Oder dass sich viele Leute in einem Kirchenchor angesteckt haben und dort nun die Durchseuchungsrate hoch ist. Mein letzter Punkt ist natürlich nur eines von vielen möglichen Beispielen, wo sich Leute anstecken können und es nun eine Veränderung gegeben haben könnte. Wichtig ist, dass wir frühzeitig Übertragungsherde identifizieren und gezielt intervenieren. Verstehen Sie, was ich meine?
Ich denke schon, ja.
Wenn wir verstehen wollen, warum sich mal mehr und mal weniger Leute mit dem Sars-CoV-2-Virus anstecken, sind drei Fragen für uns Epidemiologen zentral: Wo stecken sich die Leute an? Wann stecken sich die Leute an? Wer steckt sich an? Wir brauchen Kenntnisse über Ort, Zeit und Person.
Im Kanton Tessin sind die Fallzahlen nach dem Lockdown stets tief geblieben. Wie haben die Tessiner das geschafft?
Das liegt auch daran, dass die dortige Bevölkerung stärker sensibilisiert ist, da sie stärker von der Pandemie betroffen war und die Nachbarsituation in Italien direkter erfahren hat. Sie wussten, was passiert, wenn die Spitäler überlastet sind, wenn plötzlich viele Menschen beatmet werden müssen oder sterben. Entsprechend grösser ist ihr Verständnis für die Massnahmen zur Eindämmung des Virus. Vergleichbares gilt für Italien. Dort sieht man kaum Corona-Relativierer demonstrieren. Die Menschen wissen, dass die Massnahmen richtig und wichtig sind.
Genau darum geht es. Den Handlungsbedarf rechtzeitig zu erkennen. Und endlich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Virus sich nicht um Kantonsgrenzen kümmert, genau wie die Nachtschwärmer.