Schweiz
Justiz

Sie überwacht den Geheimdienst: Richterin Salome Zimmermann zieht Bilanz

«Die Verantwortung war riesig»: Die erste Geheimdienstrichterin der Schweiz zieht Bilanz

Der Nachrichtendienst darf neuerdings Räume verwanzen, Telefone abhören und E-Mails mitlesen. Richterin Salome Zimmermann hat die Abhöraktionen ein Jahr lang überwacht. Zeit für einen Rückblick.
29.03.2019, 06:3429.03.2019, 13:48
Andreas Maurer / ch media
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Ihr Arbeitsort war das am besten geschützte Gerichtszimmer der Schweiz. Salome Zimmermann fällte ihre Entscheide in einem abhörsicheren Raum des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen. Nicht einmal das Reinigungspersonal hatte Zutritt. Deshalb mussten die Richterin und ihr Gerichtsschreiber am Abend selber putzen. Keine Informationen dürfen den Raum verlassen, weil hier der sensibelste Bereich des Staates beurteilt wird: die Operationen des Nachrichtendienstes des Bundes.

Seit dem 1. September 2017 ist das neue Nachrichtendienstgesetz in Kraft. Es gibt dem Geheimdienst neue Möglichkeiten im Kampf gegen Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und verbotene Spionage. Seither darf er Räume verwanzen, Telefone abhören, in Computer eindringen oder Personen orten. Jede dieser Massnahmen muss vom Bundesverwaltungsgericht genehmigt werden. Die Urteile sind geheim. Es sind die einzigen Entscheide des Gerichts, die nicht publiziert werden. Nur die Geschäftsprüfungsdelegation des Bundesparlaments wird informiert.

Salome Zimmermann, Richterin Bundesverfassungsgericht
Salome Zimmermann, ehemalige Richterin: «Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich als linke, jüdische und lesbische Frau diese Aufgabe übernehmen durfte.»

Nur in dringenden Fällen darf der Nachrichtendienst eine Operation ohne Entscheid des Gerichts starten, muss dieses aber innert 24 Stunden informieren. Dann hat das Gericht drei Tage Zeit, um die Überwachung nachträglich zu genehmigen, einzuschränken oder zu stoppen. Im Normalfall entscheidet das Gericht vor dem Beginn einer Operation, wofür es jeweils fünf Arbeitstage Zeit hat. Danach kommt der Fall zur Verteidigungsministerin, die in Rücksprache mit der Justizministerin und dem Aussenminister die Aktion politisch absegnen muss.

Salome Zimmermann war die erste Geheimdienstrichterin der Schweiz und ein Jahr lang im Amt. Sie hatte die Aufgabe durch ihre damalige Funktion als Präsidentin der Abteilung I des Bundesverwaltungsgerichts erhalten. Mit 63 ging sie im Herbst 2018 in die Frühpension. Nun sitzt sie an ihrem Wohnzimmertisch in Zürich vor einer Vase mit gelben Rosen und abgewetzten Gesetzestexten. Die Juristin zieht Bilanz.

Sie haben ein Jahr lang als Richterin die Überwachungsmassnahmen des Nachrichtendienstes überprüft. Wie war es?
Salome Zimmermann: Streng. Ich musste etwas umsetzen, das noch nie gemacht wurde. Ich musste Entscheide fällen, die noch nie so gefällt wurden. Und dies in einer neuen Form: als Einzelrichterin. In allen anderen Verfahren tagt das Bundesverwaltungsgericht mindestens als Dreiergremium. Ich hatte zwar einen Gerichtsschreiber zur Unterstützung. Aber die Verantwortung lag alleine bei mir.

«Wenn ein dringender Fall reinkam, musste ich alles fallen lassen, meine Termine absagen und mich drei Tage lang nur noch mit diesen Massnahmen befassen.»

In der Vernehmlassung zum Nachrichtendienstgesetz wünschte sich das Bundesverwaltungsgericht, dass ein Dreier-Gremium die Entscheide fällt. Das Parlament lehnte dies jedoch ab. Hätten Sie lieber gemeinsam mit Kollegen geurteilt?
Die Verantwortung war riesig. Ich musste immer abwägen zwischen der vom Nachrichtendienst geschilderten Bedrohungslage – ist sie konkret genug? – und dem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der «Zielperson», wie die verdächtigte Person im Fachjargon heisst. Ist die Massnahme verhältnismässig? Lehne ich eine Massnahme ab oder schränke ich sie ein, könnte dies die Sicherheit der Schweiz gefährden. Stimme ich zu, könnte dies den Persönlichkeitsschutz verletzen. Würde man diese Verantwortung auf drei Personen verteilen, wäre es angenehmer. Es ist sehr anstrengend, aber es geht auch alleine.

Wie gingen Sie mit dem Zeitdruck um?
Wenn ein dringender Fall reinkam, musste ich alles fallen lassen, meine Termine absagen und mich drei Tage lang nur noch mit diesen Massnahmen befassen. In dringenden Fällen ist das okay, schliesslich ist die Massnahme dann schon in Kraft und es geht darum, zu beurteilen, ob sie bestehen bleiben soll. Die Frist ist knapp, aber sie hat sich bewährt.

Wie war die Arbeitsbelastung?
Sehr hoch. Ich habe sehr viel gearbeitet in diesem Jahr. Am Anfang war ich zu 70 Prozent angestellt, dann konnte ich auf 80 erhöhen. Aber ich habe eigentlich immer 100 Prozent oder mehr gearbeitet. Das Abteilungspräsidium hatte ich ja auch noch inne. In einer leitenden Funktion wie dieser stempelt man nicht. Ich habe viel Gratisarbeit geleistet. Um eine Überwachungsmassnahme umfassend beurteilen zu können, muss man die drei beziehungsweise fünf Tage jeweils voll ausnutzen.

Haben Sie je eine Überwachungsmassnahme abgelehnt?
Das ist geheim, darüber darf ich nicht sprechen.

War es Ihnen wohl als Richterin einer Geheimjustiz?
Für mich stimmt es. Die Geschäftsprüfungsdelegation des Bundesparlaments ist ja über die Entscheide informiert; es ist keine Geheimjustiz. Eigentlich ist die Tätigkeit des Bundesverwaltungsgerichts ja mehr eine administrative Aufsicht als ein Gerichtsverfahren, weil die andere Seite, die Zielperson, im Prozess fehlt.

«Der Nachrichtendienst muss sich dadurch damit auseinandersetzen, wie er mit seinen Massnahmen in das Leben der betroffenen Personen eingreift.»

Sie hatten vertieften Einblick in die Arbeit des Nachrichtendienstes. Wie beurteilen Sie diese?
Auch das unterliegt grundsätzlich der Geheimhaltung. Aber eines kann ich sagen: Ich habe den Eindruck erhalten, dass der Nachrichtendienst seine Arbeit sehr seriös macht.

Von einer SP-Frau würde man eine kritischere Einschätzung erwarten.
Das Klischee höre ich oft. Als Richterin musste ich beurteilen, ob der Nachrichtendienst seine Aufgabe richtig wahrgenommen hat. Meine politische Einstellung spielt dafür keine Rolle. Entscheidend ist alleine, was im Gesetz vorgeschrieben ist. Ich stelle fest: Der Nachrichtendienst hält sich daran.

«Es erfüllt mich schon mit Stolz, dass ich als linke, jüdische und lesbische Frau diese Aufgabe übernehmen durfte und nicht irgendein 08/15-Mann aus dem Establishment.»

Hat Ihre Arbeit etwas bewirkt?
Ja, für den Nachrichtendienst ist es sehr aufwendig, alle Massnahmen für das Gericht schriftlich zu dokumentieren. Alleine die Tatsache, dass es diesen Prozess gibt, trägt zur Qualitätssicherung bei. Ich habe mich immer als Vertreterin der überwachten Person gesehen. Dass diese Sichtweise mitberücksichtigt wird, ist sehr wichtig. Der Nachrichtendienst muss sich dadurch damit auseinandersetzen, wie er mit seinen Massnahmen in das Leben der betroffenen Personen eingreift.

Sie haben sich ein Jahr lang mit möglichen Gefahren für die Sicherheit der Schweiz auseinandergesetzt. Was war das für ein Gefühl?
Als Richterin war ich auf Steuerrecht spezialisiert. Ich hatte vorher nicht mehr über Nachrichtendienste und Bedrohungslagen gewusst, als in den Zeitungen stand. Der Einblick in diese Welt war für mich spannend, aber auch belastend. Ich trauere dieser Zeit nicht nach und freue mich über meine neuen Freiheiten.

Weshalb haben Sie aufgehört?
Ich habe mich nie durch meinen Beruf definiert und hatte schon lange vor, mit 63 in Frühpension zu gehen. Denn es gibt noch so viele andere spannende Sachen im Leben. Ich engagiere mich nun auch in der Freiwilligenarbeit. Meine Aufsichtstätigkeit war ein intensiver Abschluss meines Berufslebens. Es erfüllt mich schon mit Stolz, dass ich als linke, jüdische und lesbische Frau diese Aufgabe übernehmen durfte und nicht irgendein 08/15-Mann aus dem Establishment.

Der Nachfolger von Salome Zimmermann ist Michael Beusch, der neue Präsident der Abteilung I des Bundesverwaltungsgerichts. Der Zürcher Anwalt ist SP-Mitglied und Titularprofessor für Steuerrecht der Universität Zürich. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Zuständigkeiten für die Genehmigungsverfahren mittlerweile neu organisiert. Vier Richter, die sich 50 Stellenprozente teilen, übernehmen die Fälle – weiterhin im Einzelrichtersystem. Marianne Ryter, die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts, sagt auf Anfrage: «Damit konnten die Verfahren bisher fristgerecht erledigt werden. Mehr Ressourcen sind derzeit nicht nötig.»

In der Anfangsphase lancierte der Nachrichtendienst eine Operation pro Monat, die im Durchschnitt zehn bewilligungspflichtige Massnahmen umfasste. Wer mit den neuen Methoden beschattet wird, wird im Nachhinein darüber informiert und kann dann Beschwerde erheben. Diese wird von der Abteilung II des Bundesverwaltungsgerichts behandelt. Bisher ging keine Beschwerde ein, wie Ryter sagt. Vermutlich sind alle gestarteten Operationen noch am Laufen. (aargauerzeitung.ch)

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21 Kommentare
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Markus97
29.03.2019 07:18registriert August 2018
Der Nachrichtendienst sollte Ende Jahr veröffentlichen müssen wie viele Anträge auf Überwachung er gestellt hat und wie viele angenommen wurden. So würde es auffallen wen plötzlich tausende überwacht werden. Ich sehe keinen Grund diese Information geheim zu halten.
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Scaros_2
29.03.2019 06:44registriert Juni 2015
Warum sind das keine 100% Stellen wenn doch das 1 jährige beispiel aufzeigt, das besagte Person sehr viel gratisarbeit geleistet hat.
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Mantrax
29.03.2019 09:11registriert Februar 2018
"Es erfüllt mich schon mit Stolz, dass ich als linke, jüdische und lesbische Frau diese Aufgabe übernehmen durfte und nicht irgendein 08/15-Mann aus dem Establishment." Man stelle sich den umgekehrten Satz und den darauf folgenden Shitstorm vor...
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