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Adoptionsskandal Sri Lanka: Der Kampf einer Adopierten für Gerechtigkeit

Sarah Ineichen wurde als Baby von Schweizer Eltern adoptiert. Ob ihre biologische srilankesische Mutter sie wirklich freiwillig weggab, weiss sie bis heute nicht.
Sarah Ineichen wurde als Baby von Schweizer Eltern adoptiert. Ob ihre biologische srilankesische Mutter sie wirklich freiwillig weggab, weiss sie bis heute nicht. bild: zvg

Wie es eine Adoptierte schaffte, sich Gehör beim Bundesrat zu verschaffen

Als Sarah Ramani Ineichen als Baby in die Schweiz adoptiert wurde, nahm man ihr ihr Recht auf Identität womöglich für immer. Seit drei Jahren kämpft die Adoptierte für mehr Gerechtigkeit – und erhält nun Gehör vom Bund.
14.12.2020, 15:0715.12.2020, 13:23
Helene Obrist
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Alles beginnt an einem Dienstag im Oktober 2017. Sarah Ramani Ineichen spricht in einem Interview das erste Mal über ihre Suche nach ihrer biologischen Mutter. Zwei Monate zuvor gab die sri-lankanische Regierung zu, dass in der Vergangenheit Tausende Babys mit gefälschten Identitäten von ausländische Ehepaaren adoptiert wurden. Ineichen, heute 39 Jahre alt, war eines dieser Babys.

Sechs Wochen nach ihrer Geburt kam sie in die Schweiz. Sie wächst in Nidwalden auf und macht eine Ausbildung zur Hebamme. Sie kriegt eigene Kinder. Je älter diese werden, desto mehr Fragen stellt sich Ineichen zu ihrer eigenen Herkunft. Als ihr Sohn in der Schule einen Stammbaum malen soll, beschliesst sie sich auf die Suche nach ihrer biologischen Mutter zu machen. Denn dort, wo in anderen Stammbäumen Namen und Gesichter sind, klafft bei Ineichen eine Lücke.

Mit den wenigen Dokumenten, die sie hat, kommt sie nicht weit. Ihre Geburtsurkunde ist gefälscht. Die in den Dokumenten als ihre biologisch angegebene Mutter ist nicht mit ihr verwandt. Ein DNA-Test zeigte es schwarz auf weiss. Bis heute weiss Ineichen nicht, ob ihre biologische Mutter sie überhaupt freiwillig zur Adoption freigegeben hatte.

Mit «Back to the Roots» kämpft die Hebamme und Mutter von drei Kindern für mehr Gerechtigkeit.
Mit «Back to the Roots» kämpft die Hebamme und Mutter von drei Kindern für mehr Gerechtigkeit. bild: zvg

Zurück zu den Wurzeln

«Das Interview, das ich danach gab, löste eine Lawine aus», erinnert sich Ineichen heute. Sie sitzt im Kinderzimmer ihrer Tochter in Genf. Nach der Publikation meldeten sich zahlreiche Adoptierte bei ihr. Sie erzählten Ineichen ihre eigenen Geschichten. Suchten Rat, waren froh endlich mit jemanden zu sprechen, die Ähnliches erlebt hatte.

Kurz darauf beschliesst Ineichen einen Verein zu gründen. «Back to the Roots», zurück zu den Wurzeln, der Name war rasch gefunden. Gemeinsam mit Sakuntala Küttel und Olivia Ramya Tanner, beide ebenfalls adoptiert aus Sri Lanka und noch immer auf der Suche nach ihrer Herkunftsfamilie, will Ineichen den Herkunftssuchenden eine Anlaufstelle bieten. «Wir wollten einen Raum für die vielen Adoptierten in der Schweiz schaffen. So dass sie sich nicht alleine auf diese schwierige Suche nach ihren Familien machen müssen.»

Die Geschichte von Vereinsgründerin Sakuntala Küttel:

Doch das war noch nicht alles. Die Adoptierten forderten Gerechtigkeit. Die Schweizer Behörden sollten Rechenschaft ablegen. Darüber, wie es dazu kam, dass Ineichens und zahlreiche anderen Geburtsurkunden gefälscht waren und wie es dazu kommen konnte, dass die Schweizer Behörden Adoptionen in den 80er Jahren en masse durchwinkten und nicht ein einziges Mal genauer hinschauten. «Das Ziel von Back to the Roots war schnell formuliert: Wir wollten, dass die Schweiz eine Mitverantwortung gegenüber den Müttern aus Sri Lanka übernimmt.»

Bericht zeigt Versagen der Behörden

Fast gleichzeitig mit der Vereinsgründung gelangt der Adoptionsskandal aufs politische Parkett. Im März 2018 nimmt der Bundesrat ein Postulat der SP-Nationalrätin Rebecca Ana Ruiz an. Ruiz fordert eine umfassende Aufklärung der Schweizerischen Adoptionsspraxis. Das Bundesamt für Justiz beauftragte darauf die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), einen Forschungsbericht dazu verfassen.

Ende Februar 2020 wird der brisante Bericht publiziert. Die Schweizer Behörden hätten «auf allen Ebenen versagt», so die Autorinnen des ZHAW-Berichts. In vielen der untersuchten Adoptionsfällen kam es zu Unregelmässigkeiten. Die Schweizer Behörden wussten von Kinderhandel und illegalen Machenschaften. Dennoch wurden weiterhin Kinder aus Sri Lanka adoptiert.

Knapp drei Jahre nach Vereinsgründung hat sich Ineichen mit Back to the Roots ein Stück Gerechtigkeit zurückgeholt. Zehn Monate nach dem ZHAW-Bericht anerkennt der Bundesrat die damaligen Verfehlungen der Adoptionsbehörden.

«Der Bundesrat bedauert, dass die schweizerischen Behörden Adoptionen aus Sri Lanka bis in die 1990er-Jahren trotz schwerer Unregelmässigkeiten nicht verhindert haben», teilte Justizministerin Karin Keller-Sutter am Montag an einer Medienkonferenz mit. Die Bundesrätin verspricht die Adoptierten bei ihrer Herkunftssuche zu unterstützen und will die historische Aufarbeitung der illegalen Adoptionen ausweiten.

Medienbericht über Medienbericht

«Wir sind unglaublich stolz auf das, was wir in dieser Zeit geschafft haben», freut sich Ineichen. Sie selbst habe irgendwann aufgehört die Stunden zu zählen, die sie freiwillig für Back to the Roots aufgewendet hat. Gezweifelt habe sie nie. «Die Arbeit für den Verein ist gleichzeitig das Aufarbeiten meiner eigenen Geschichte.»

Herausforderungen gab es in den vergangenen drei Jahren einige. «Eigentlich war immer mein Mann der Menschenrechtsaktivist, der für mehr Gerechtigkeit kämpft. Plötzlich übernahm ich diese Rolle», schmunzelt sie. «Ganz naiv» hätte sie einem ersten TV-Auftritt im «Talk Täglich» zugesagt. Es folgten zahlreiche weitere Medienberichte.

Es sei nicht immer einfach gewesen, ihre eigene, ganz persönliche Geschichte einer breiten Öffentlichkeit zu erzählen, gibt Ineichen unumwunden zu. Doch sie weiss, dass genau solche Geschichten die Öffentlichkeit wachrütteln. Erzählungen wie die ihrige und die damit verbundenen Reaktionen erhöhen den Druck auf Politik und Behörden.

Sarah Ineichen (vorderste Reihe, zweite von rechts) an einem Adoptiertentreffen.
Sarah Ineichen (vorderste Reihe, zweite von rechts) an einem Adoptiertentreffen. bild: zvg

Doch es war nicht nur das eigene Exponiertsein, das Ineichen manchmal den Schlaf raubte. Belastend waren für sie die Erzählungen anderer Adoptierten. Im ersten Jahr nach Vereinsgründung meldete sich im Schnitt alle drei Tage eine adoptierte Person bei Back to the Roots. Ineichen hatte für jede Geschichte ein offenes Ohr. «Besonders schwierig waren Erzählungen von Missbrauch oder familiären Zerwürfnissen.» Sich davon abzugrenzen, musste Ineichen zuerst lernen.

Der Bund übernimmt

Eine Herausforderung sei zuweilen auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden gewesen. Adoptierte müssten sich bei ihrer Herkunftssuche häufig an die gleiche Behördenstelle wenden, die die Adoption durchgeführt. Dort sei Ineichen und ihr Team häufig auf extrem festgefahrene Strukturen und Mechanismen gestossen. «Da dafür zu sorgen, dass die internen Prozesse und Vorgänge wirklich kritisch hinterfragt werden, war nicht immer einfach», sagt Ineichen.

Trotz der vielen Herausforderungen: Ineichen fällt mit der öffentlichen Anerkennung und Entschuldigung der Verfehlungen der Schweizer Behörden ein Stein vom Herzen. «Die Schweiz nimmt nun punkto Aufarbeitung das Heft in die Hand. Das ist jetzt nicht mehr unsere Aufgabe.» Direktbetroffene sollen in allen Verfahren und Massnahmen möglichst gut unterstützt werden, fordert Ineichen.

Ans Zurücklehnen denkt sie nicht. Die nächste Herkulesaufgabe ist bereits in Griffweite. «Nun können wir uns auf die Familien in Sri Lanka konzentrieren, die vor 40 Jahren ihre Kinder verloren haben.» Mit Back to the Roots sammelt sie nun Spenden, die DNA-Tests in Sri Lanka finanzieren sollen. Denn auch die Bevölkerung der Inselnation im Indischen Ozean erfährt immer mehr von der Ungerechtigkeit, die vielen Familien widerfahren ist. Immer mehr betroffenen Mütter machen sich auf die Suche nach ihren biologischen Kindern. «Für mich und viele andere sind diese Tests die einzige Chance, per Zufall doch noch unsere biologischen Mütter zu finden», sagt Ineichen.

Und die Zeit drängt. Viele der Frauen gehen auf die 70 zu. Mit einer globalen Pandemie und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77 Jahren in Sri Lanka, bleiben den Suchenden wenn überhaupt nur noch wenige Jahre.

Das weiss auch Ineichen. «An manchen Tagen kostet es mich extrem viel Energie, anzuerkennen, dass mir mein Recht auf Identität womöglich für immer genommen wurde.» Doch sie wolle nicht nur anklagen. «Es war mir extrem wichtig, dass die Schweiz anerkennt, dass uns Unrecht getan wurde. Nun gilt es nach vorne zu schauen und zu lernen, damit zu leben.»

Sie verabschiedet sich lächelnd aus dem Zoom-Call. Ineichen, die gelernte Hebamme, muss an eine Geburt. Ihre Patientin liege bereits in den Wehen. Knapp acht Stunden später meldet sie sich per Mail zurück: Ein kleiner Junge sei auf die Welt gekommen. Ihm und der Mutter gehe es gut.

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9 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Spin Doctor of Medicine
14.12.2020 18:43registriert August 2019
Meinen grössten Respekt dieser coolen Frau und allen anderen, die sich für ihre Rechte engagieren. Das ist ein so schweres Schicksal. Viele realisieren wohl nicht, was es bedeutet, von den eigenen Wurzeln abgeschnitten zu sein.
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Glenn Quagmire
14.12.2020 15:57registriert Juli 2015
Wie ist das Verhältnis zu den Adoptiveltern? Wurden, zumindest dem Foto nach, hauptsächlich Mädchen adoptiert?
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