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Ceneri-Basistunnel: Die Schweiz hat die Neat für sich selbst gebaut

Bundesrätin Simonetta Sommaruga, links, besucht zusammen mit Dieter Schwank, Präsident des Alptransit-Managements, Mitte, den neuen Ceneri-Basistunnel, am Donnerstag, 29. August 2019 bei Camorino. Am  ...
Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga bei der Besichtigung des Ceneri-Tunnels im August 2019.Bild: KEYSTONE/Ti-Press
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Ein europäisches Projekt? Die Schweiz hat die NEAT für sich selbst gebaut

Mit der Einweihung des Ceneri-Basistunnels ist die Flachbahn durch die Alpen nach fast 30 Jahren fertiggestellt. Ob sie jemals ihre volle Wirkung entfalten wird, ist fraglich.
04.09.2020, 06:0219.02.2024, 15:22
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Ab und zu gibt es Momente, in denen man realisiert, wie alt man geworden ist. Ich war ein junger Journalist, als das Stimmvolk 1992 die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) klar angenommen hatte. Der damalige Verkehrsminister Adolf Ogi hatte sich mit Herzblut für das von verschiedenen Seiten – darunter den Grünen! – bekämpfte Megaprojekt eingesetzt.

28 Jahre danach ist die NEAT vollendet. Am Freitag werden Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Bundesrat Ignazio Cassis und der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi den 15,4 Kilometer langen Basistunnel am Monte Ceneri in Betrieb nehmen. Eine grosse Party wie vor viereinhalb Jahren am Gotthard wird es wegen Corona nicht geben.

Markenbogen Post Ceneri-Basistunnel
Zur Ceneri-Eröffnung hat die Post eine Sondermarke veröffentlicht. Sie zeigt den Wunschtraum der Schweiz: Die NEAT als Kernstück eines Korridors von Holland nach Italien.Bild: ho

Ein Meilenstein ist die Eröffnung so oder so: Mit den drei Basistunnels durch Lötschberg, Gotthard und Ceneri hat die Schweiz den Jahrzehnte alten Traum einer Flachbahn durch die Alpen realisiert. Die Fahrzeit zwischen Zürich und Lugano beträgt ab Dezember noch zwei Stunden. Rund 23 Milliarden Franken liess sich die Schweiz diesen Kraftakt kosten.

«Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr.»
Bundesrat Hans Hürlimann, 1980

Mein inzwischen fortgeschrittenes Alter zeigt sich auch anhand eines anderen Datums: Die Ceneri-Einweihung am Freitag findet fast auf den Tag genau 40 Jahre nach der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels statt. Bundesrat Hans Hürlimann sprach damals einen denkwürdigen Satz: «Dieser Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr.»

Es war pures Wunschdenken, denn natürlich wurde der Gotthardtunnel rasch ein Magnet für Lastwagen aus ganz Europa. Der Bau der NEAT war auch angetrieben durch das Ziel, den Schwerverkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlagern. Die 1994 überraschend angenommene Alpeninitiative sorgte in dieser Hinsicht zusätzlich für Druck.

Wirklich umgesetzt wurde sie bis heute nicht. Noch immer fahren rund 900’000 Lastwagen pro Jahr durch die Schweiz. Kommt mit der NEAT alles gut? Man darf es bezweifeln, und das nicht nur, weil es schon heute Konflikte zwischen Güter- und Personenzügen gibt. Sie könnten sich am Ceneri verstärken, weil die Tessiner S-Bahn durch den Tunnel rollen wird.

Bundesrat Adolf Ogi, Mitte, und Fritz Buerki, Direktor Bundesamt fuer Verkehr, links, praesentieren in Bern die Botschaft ueber den Bau der Schweizerischen Eisenbahn-Alpentransversale NEAT, der Alpent ...
Adolf Ogi (Mitte) präsentierte 1990 die Botschaft zum Bau der NEAT.Bild: KEYSTONE

Das Hauptproblem aber ist die europäische Ebene, denn die NEAT ist aus Schweizer Sicht das Kernstück eines Transitkorridors, auf dem Container oder Sattelschlepper mit einer Gesamthöhe von bis zu vier Metern durchgängig auf der Schiene durch alle Tunnels vom Nordseehafen Rotterdam bis nach Genua transportiert werden sollen.

«Die NEAT macht die Schweiz etwas europäischer und Europa viel schweizerischer.»
Peter Flüglistaler, Direktor BAV

Die NEAT sei «eine grossartige helvetische Meisterleistung, weil sie von Anfang an europäisch gedacht und konzipiert wurde», schreibt Peter Flüglistaler, der Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), in einem Beitrag zur Ceneri-Eröffnung. Die NEAT mache «die Schweiz etwas europäischer und Europa viel schweizerischer», meint Füglistaler.

Es trifft zu, dass die Europäische Union (EU) mit dem Landverkehrsabkommen von 1999 – ein Teil der Bilateralen I – die schweizerische Verkehrspolitik mit der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) akzeptiert hat. Dies widerlegt den Vorwurf, die EU habe nichts zur Finanzierung der NEAT beigetragen. Indirekt tat sie es via LSVA doch.

Trotzdem ist es fraglich, ob die NEAT Europa «viel schweizerischer» macht. Denn bei den Zufahrtsstrecken harzt es. Das gilt weniger für den Süden. Die «schlampigen» Italiener haben geliefert und den Vier-Meter-Korridor dank baulichen und betrieblichen Massnahmen weitgehend vollendet. Es sind die «gründlichen» Deutschen, die versagt haben.

Altbundesrat Adolf Ogi und Verkehrsminister Moritz Leuenberger beim Interview mit Schweizer Fernsehen SF DRS am Donnerstag, 28. April 2005, beim Durchstich im Loetschbergtunnel der NEAT auf der Seite  ...
Adolf Ogi und Nachfolger Moritz Leuenberger (r.) beim Durchstich im Lötschbergtunnel im April 2005.Bild: KEYSTONE

Die Erweiterung der Rheintalbahn zwischen Basel und Karlsruhe auf vier Spuren hat sich aufgrund Tausender Einsprachen massiv verzögert. Dabei handelt es sich um ein Nadelöhr, wie die Gleisabsenkung bei Rastatt 2017 zeigte. Sie führte zu einer mehrwöchigen Sperrung der Rheintalbahn. Nun dürfte der Ausbau erst in 20 Jahren fertiggestellt sein.

«Die Verlagerungspolitik ist in ganz Europa ein Riesenthema – auch wegen der Klimadebatte.»
Simonetta Sommaruga

«Als ich Verkehrsministerin wurde, habe ich den Deutschen sofort gesagt, dass das nicht geht», sagte Simonetta Sommaruga im Interview mit CH Media. Letztes Jahr konnte sie mit Deutschland vereinbaren, dass täglich 50 zusätzliche Güterzüge auf der Strecke verkehren werden. Damit kann die Nachfrage laut BAV «bis auf weiteres abgedeckt werden».

Ausserdem will die Schweiz eine Ausweichroute auf der linken Rheinseite realisieren, durch Frankreich und weiter nach Belgien. Spruchreif ist aber noch nichts. Sommaruga betont, die Verlagerungspolitik sei «in ganz Europa ein Riesenthema – auch wegen der Klimadebatte». Dennoch fragt man sich, ob die Schweiz ihre Rolle als Transitland nicht überschätzt.

So hat Italien nur geliefert, weil die Schweiz den Vier-Meter-Korridor faktisch finanziert hat, mit 230 Millionen Franken. «Die Verlagerung ist den Italienern egal», schrieb der «Tages-Anzeiger» vor sieben Jahren. Der Anteil der Schiene am Warentransport liege bei unter zehn Prozent, und andere Bahnprojekte hätten für die Italiener Priorität.

Gemeint sind der Basistunnel am Mont Cenis (Eröffnung für 2026 geplant), der eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Lyon und Turin ermöglicht, und jener am Brenner nach Innsbruck (Eröffnung 2028). Beides sind «echte» europäische Projekte, die zu einem beträchtlichen Teil von der EU finanziert werden.

Was «NEAT» gebracht hat:

Video: srf/SDA SRF

Sie sind auch ein Fingerzeig an SVP und Konsorten, die sich gerne der Fantasie hingeben, die Schweiz könnte die EU in die Knie zwingen, wenn sie die Alpentransitachsen blockiere. Europa ist von den Schweizer Verkehrswegen viel weniger abhängig, als wir uns einreden, und mit Mont Cenis und Brenner wird sich diese Entwicklung weiter verstärken.

Die Geldgeschenke ans Ausland seien «der Preis für eine Verlagerungspolitik, welche die Schweiz mehr will als alle andern», bilanzierte der «Tages-Anzeiger» 2013. Der Verein Alpeninitiative warnt in der aktuellen Ausgabe seines Magazins vor einer weiteren Zunahme des Nord-Süd-Verkehrs, weil China in den Ausbau norditalienischer Häfen investiere.

Vielleicht hat die Bundespräsidentin recht und die Klimakrise wird die Verlagerung auf die Schiene voranbringen. Die NEAT ist ein grosser Wurf, aber insgesamt erhärtet sich der Verdacht, den ich schon vor 28 Jahren hatte: Die Schweiz mag sie als europäisches Projekt betrachten, aber eigentlich hat sie die teuren Tunnels für sich selbst gebaut.

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Wie der Teufel dank der NEAT aus dem Gotthard verscheucht wurde: Die Geschichte des längsten Tunnels der Welt
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Wie der Teufel dank der NEAT aus dem Gotthard verscheucht wurde: Die Geschichte des längsten Tunnels der Welt
So hat alles angefangen: Der Ingenieur Eduard Gruner beschreibt 1947 in der Zeitschrift «Prisma» die Idee eines Gotthard-Basistunnels als Teil eines Schnellbahnsystems. Die Strecke sollte Teil eines Europa-Afrika-Expresses sein. Die Visionäre im «Prisma» hatten auch noch ganz andere Ideen: So sollte eine Hängeschnellbahn dereinst die Strecke Zürich – Winterthur auf sieben Minuten verkürzen.
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quelle: pd
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Feuer im Ceneri: SBB geht Notfallszenarien durch
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86 Kommentare
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jk8
04.09.2020 07:23registriert Oktober 2014
Wenn die EU den Güterverkehr an der Schweiz vorbeilenkt kann uns das egal sein. Wichtig ist, dass der Transitverkehr nicht mehr per Lastwagen über den Gotthard donnert, sondern verlagert wird. Eine kluge Lenkung auf die Schiene könnte die Schweiz bis zu einem gewissen Grad auch ohne EU bewerkstelligen; mit der Erhöhung der der Schwerverkehrsabgabe und endlich regelmässigen Kontrolle der Lastwagen, die zum Teil haarsträubende Mängel aufweisen.
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raues Endoplasmatisches Retikulum
04.09.2020 07:07registriert Juli 2017
Nächstes cooles Verkehrsprojekt, dass aber auch für die CH selber geplant ist, Cargo sous Terrain.
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eldorak
04.09.2020 08:48registriert April 2019
Dass Deutschland und Bahn nicht so gut zusammen funktioniert ist ja auch nichts neues 🤭
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