Im Kunstschatz des Bundes gibt es zweifellos Werke, die ein grösseres Publikum ansprechen. Obwohl das kleinformatige Glasgemälde durchaus beachtenswert ist: Der heilige Hieronymus sitzt in einem leuchtend roten Mantel an einem Steinpult und erhebt seinen Blick zu einem Kruzifix. Die sogenannte Kabinettscheibe enthält auch die Inschrift des geistlichen Würdenträgers Hieronymus Betschlin und dessen Wappen. Das Werk eines unbekannten Künstlers stammt aus dem Jahr 1540.
So weit, so einfach. Doch das Glasgemälde ist ein umstrittenes Exponat: Es ist das vorerst letzte und einzige Kunstwerk im Besitz der Eidgenossenschaft, das erwiesenermassen als NS-Raubkunst einzustufen ist. So werden Objekte genannt, die von den Nationalsozialisten aus jüdischen Sammlungen und Haushalten geraubt worden sind oder unrechtmässig den Besitzer gewechselt haben.
Festgestellt hat diese unrühmliche Besonderheit eine soeben vorgelegte Untersuchung. Das Bundesamt für Kultur liess zum zweiten Mal die Bestände der Sammlungen der Eidgenossenschaft und der Nationalmuseen durchforsten. Die Experten prüften, ob Kulturgüter einen heiklen Hintergrund aus der Nazizeit haben. Eine «eindeutig problematische Provenienz», wie es im Fachjargon heisst, entdeckten die Experten einzig im Landesmuseum in Zürich. In dessen Besitz befindet sich die Kabinettscheibe.
Das Werk zeugt davon, dass die Nationalsozialisten nicht nur skrupellos Kunst raubten, sondern auch Sammlungen verscherbelten und sich um den Willen grosszügiger Stifter scherten. Jüdischen Kunstliebhabern wurde selbst nach ihrem Tod übel mitgespielt, wie eine Rekonstruktion zeigt.
Das bundeseigene Landesmuseum kaufte die Kabinettscheibe 1943 bei einem St.Galler Kunsthändler namens Rothenhäusler. 2800 Franken bezahlte das Haus dafür, ein Betrag, der heute über 14'000 Franken entspricht. Das Werk stammte, so belegen es offizielle Unterlagen, aus der Sammlung «Julius Heyman Frankfurt». Aus ihr hätte im Laufe der Zeit ein bedeutendes Museum werden sollen.
Heyman, ein jüdischer Philanthrop und Sammler, verstarb 1925. Der einstige Bankier vermachte seine Sammlung mit dem eigens dafür gebauten Haus der Stadt Frankfurt – unter drei Bedingungen: Erstens sollte beides mindestens ein Jahrhundert erhalten bleiben, zweitens dem Publikum zugänglich gemacht und drittens Heymans Adoptivtochter Wohnrecht gewährt werden.
Die Stadt nahm die Schenkung an. 1928 weihte sie das Museum an der neuen Julius-Heyman-Strasse feierlich ein. Der Oberbürgermeister versprach: Man werde dafür sorgen, dass Heymans letzter Wille «auf den Buchstaben» erfüllt werde. Zu sehen waren zeitgenössische Gemälde und Skulpturen, aber auch Glasmalereien aus den vorangegangenen Jahrhunderten.
Doch dann kamen die Nazis an die Macht. Entgegen dem ausdrücklichen Stifterwillen schlossen sie 1940 das Museum Heymans, vertrieben seine Adoptivtochter, räumten das Haus und lösten die Sammlung auf. Die Stadtoberen verteilten die Beute teils auf andere Museen, teils kam sie direkt in den Handel. Das Haus selbst wurde 1944 bei einem Luftangriff zerstört.
Gemäss Übertragungslisten landete die Hieronymus-Kabinettscheibe mit anderen kleinformatigen Glasgemälden im Historischen Museum Frankfurt. Von dort aus wurde sie in die Schweiz an den Kunsthändler Rothenhäusler weitergereicht – und er wiederum verkaufte sie dem Landesmuseum.
Der Rest der Geschichte setzt viel später ein: vier Jahrzehnte nach dem Untergang des Deutschen Reichs. Es war 1998, als das Bundesamt für Kultur erstmals eine «Untersuchung zum Zeitraum 1933 bis 1945» anordnete.
Dabei stiessen die Experten auf den problematischen Ursprung der Kabinettscheibe. Es war kein direkter illegaler Akt, wie sie in Bundesbesitz gekommen war. Aber die Hintergründe waren moralisch verwerflich und rechtlich anrüchig – deshalb die Kategorisierung als NS-Raubkunst.
Was also, wenn sich noch allfällige Erben des Sammlers Julius Heyman melden? Könnten sie Ansprüche erheben? Oder auf den früheren Rechtszustand pochen? Das Landesmuseum jedenfalls platzierte Aufrufe und registrierte das Werk in der «Lost Art»-Datenbank für NS-Raubkunst. Ebenso arbeiteten die Schweizer mit dem Historischen Museum Frankfurt zusammen. Dessen Provenienzforscher haben sich mittlerweile der Heyman-Sammlung angenommen.
Zwar sei es nach den Veröffentlichungen möglich, dass noch Ansprüche angemeldet werden, erklärt Heidi Amrein, die Chefkuratorin des Landesmuseums. «Aber dies erscheint uns immer weniger wahrscheinlich.» Man erhoffe sich nun insbesondere Hinweise aus dem professionellen Umfeld oder von Sammlern.
Ausgestellt wurde die Kabinettscheibe laut Amrein in den vergangenen Jahren nicht. Sie liegt im Depot des Landesmuseums, Inventarnummer LM-22175, als stilles Zeitdokument für den ruchlosen Umgang der Nazis mit Kunst.
Und ja, wenn irgend einmal ein Teil der Heymann-Sammlung wieder zusammen kommt und öffentlich ausgestellt wird, sollten wir es dazu geben.
PS: Wenn diese Untersuchungen jetzt abgeschlossen sind, wären doch Kapazitäten frei, um Kunst und Kulturgüter in CH Besitz zu identifizieren, die bei anderen völkermörderischen Gelegenheiten in unseren Besitz kamen.