Sich einschränken fällt vielen schwer. Wir verzichten nicht gern. Doch es zeigt sich, dass jede Reduktion auch eine Horizonterweiterung sein kann. Wenn wir uns jetzt wegen des Virus nicht mehr wie gewohnt bewegen können, wird unser Leben in den eigenen vier Wänden intensiver.
Wenn die Zerstreuung wegbleibt, können wir uns auf das Wesentliche fokussieren. Dieses Prinzip ist wohl bekannt: in allen Religionen, in der Psychologie – und auch in der Kunst.
Irgendetwas am Verzicht muss positiv sein. Sonst würden nicht viele freiwillig fasten oder sich einschränken. Katharina Bernecker forscht als Psychologin an der Universität Zürich über unsere Willenskraft. Sie sagt, übersättigt von Erfahrungen, würden wir nicht mehr an den Blumen am Wegesrand riechen. Und sie vermutet, dass wir nach der Ausgangsbeschränkung die Entschleunigung vermissen könnten.
Was macht der freiwillige Verzicht mit uns?
Katharina Bernecker: Er ermöglicht eine neue Erfahrung. Man kann sich reflektieren und Abstand vom Selbstverständlichen nehmen. Und wenn die Leute den Verzicht schaffen, den sie sich vorgenommen haben, erfüllt es sie mit Stolz und gibt ihnen ein gutes Gefühl. Das sehe ich auch in meiner Forschung über die Willenskraft.
Was passiert nach Beendigung des Verzichts?
Der Genuss ist oft viel stärker als vorher. Leute, die gefastet haben, berichten, dass der erste Biss in einen Apfel ein tolles Erlebnis gewesen sei. Die Wertschätzung steigt – auch das kann ein Motiv sein, eine Zeit lang auf etwas zu verzichten.
Gibt es Studien dazu, was Überfluss und Verzicht mit uns machen?
Es gab einmal eine Studie bei der Leute vor einer bekannten Touristenattraktion in Boston, der Old North Church, angesprochen wurden. Der Hälfte der Leute wurde ein Fragebogen vorgelegt mit häufigen Reisedestinationen auf der Welt wie Paris oder New York. Die anderen erhielten lauter exotische Orte. Die Testpersonen mussten ankreuzen, wo sie schon waren. Erstere erhielten somit das Gefühl, schon fast überall auf der Welt gewesen zu sein – die anderen nicht. Danach liess man sie die Kirche besuchen. Die vermeintlichen Globetrotter verblieben weniger lang in der Kirche als die andere Gruppe.
Wertschätzung ist also relativ?
Darauf deutet die Studie hin. Eine andere zeigte dieselbe Tendenz: Leuten, denen vermittelt wurde, sie hätten schon viel erlebt und gesehen, blieben danach seltener bei einem Blumenstand an der Strasse stehen, um an den Blumen zu riechen. Der Überfluss macht die kleinen Freuden des Alltags unbedeutend.
Was ist aktuell der Gewinn für die Menschen in der Quarantäne?
Dazu habe ich vor einer Woche gerade eine Studie lanciert: Ich befrage Leute in der Coronakrise während fünf Wochen zu ihrem Wohlbefinden.
Wie lautet Ihre These?
Die Menschen sind unterschiedlich betroffen: Jene, die nun in finanzielle Nöte kommen, erleben die Zeit anders als jene, welche ihre Arbeit gut aus dem Homeoffice erledigen können. Für Eltern wiederum, die gleichzeitig ihre Kinder betreuen müssen, kann die Zeit belastend sein. Ich denke, das Wohlbefinden wird auf diese Faktoren zurückzuführen sein. Allerdings gibt es oft noch eine andere Tendenz.
Welche?
Die Menschen gewöhnen sich in der Regel relativ schnell an Veränderungen und kommen selbst nach einschneidenden Ereignissen oft wieder in ihren vorherigen Gemütszustand. Ich bin gespannt, ob es nach dem Lockdown tatsächlich zum grossen Aufblühen der Gesellschaft kommt.
Sie meinen, wir könnten der Entschleunigung nachtrauern?
Das ist möglich. Jetzt gibt es viel Ruhe. Manche macht das einsam, andere entlastet es.
Kann auch freiwilliger Verzicht schlecht sein?
Nur wenn man sich übernimmt. Vielleicht schafft man es nicht, zwei Wochen lang im Kloster zu schweigen – dann endet das Experiment mit einem schlechten Gefühl.
Gerade solche Schweige-Retraiten boomen aber.
Ja, und man kann sich damit überfordern, wenn man auf einen Schlag zu viel will.
Kann es gut sein, sogar Beziehungen einzuschränken, oder hat der Mensch nie genug davon?
Ohne soziale Beziehungen sind wir schlecht dran. Es ist ein grundlegendes Bedürfnis. Aber möglicherweise ist die Art der Beziehungspflege via Whatsapp nicht befriedigend.
Warum können manche besser fokussieren als andere?
Sie haben einen guten Zugang zu ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen und schaffen es auch mal Nein zu sagen, wenn es ihnen zu viel wird. Dabei ist eine wertschätzende Kommunikation aber sicher wichtig, um am Ende nicht allein dazustehen.
Interview: Sabine Kuster
Der Wiener Architekt Adolf Loos schrieb 1910, das Ornament sei ein Verbrechen. «es ist ein verbrechen an der volkswirtschaft, dass dadurch menschliche arbeit, geld und material zu grunde gerichtet werden», schrieb er und verzichtete dabei auf Grossbuchstaben, weil sie ihm überflüssig schienen. Möbel, Kuchen oder Häuser mit Ornamenten zu verschmieren, sei eine Degenerationserscheinung. Seine Villen sind einfache Kuben, im Innern setzte er mit Marmor und Holz auf die Schönheit, die dem Material selber innewohnt. Loos wurde zum Mitbegründer der Moderne, deren Leitsatz «Form folgt Funktion» die Architektur im 20. Jahrhundert bestimmt.
Das Prinzip von Schönheit durch schlichte Schnörkellosigkeit, gepaart mit handwerklicher Präzision und Materialkenntnis, predigte auch das Bauhaus ab 1919. Es ging den Designern um das Gestalten von Geschirr und Möbeln, die über den modischen Geschmack hinaus ihren Zweck erfüllen und das Auge erfreuen. So entstanden Teekannen und Türfallen ohne neckischen Zierrat, Stühle ohne Fransen und Kleider ohne Rüschchen. Auch wenn das Bauhaus nicht lange bestand, machte diese Haltung Schule.
Von einer neuen Zeit und einem neuen Menschen träumten um 1910 auch die Künstler. Die Abstraktion war Ausdruck dieser Utopie. Kasimir Malewitsch sah 1915 in einem schwarzen Quadrat oder einem weissen Kreis die Essenz alles Sichtbaren und eines neuen Bewusstseins. Piet Mondrian und Theo van Doesburg verzichteten in ihren geometrisch gebauten Gemälden auf das Abbild der Natur. Für sie war es ein Neuanfang. «Wir sehen die Zeit der reinen Malerei voraus», schrieb van Doesburg. «Denn nichts ist konkreter, wirklicher, als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche ...» Max Bill formulierte es 1949 so: «das ziel der konkreten kunst ist es, gegenstände für den geistigen gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der mensch sich gegenstände schafft für den materiellen gebrauch.»
Das mag ideologisch, fast religiös klingen. Tatsächlich gebärdeten sich die Wortführer der verschiedenen Gruppierungen – vom Suprematismus über de Stijl bis zu den Zürcher Konkreten – oft als strenge Prediger. Mondrian etwa duldete nur die Grundfarben Rot-Gelb-Blau plus Weiss und Schwarz. Solch starre Regeln sind passé. Aber das Prinzip, Kunst aus dem Nichts zu erschaffen, mit minimalen Mitteln ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, hat sich bis heute bewährt.
Robert Ryman (1930–2019) setzte in seiner Malerei primär auf die Farbe Weiss, um den Reichtum dieser Nicht-Farbe sichtbar zu machen. Die kargen Linienbilder von Agnes Martin (1912–2004) mögen auf den ersten Blick reduziert oder gar blass wirken. Doch wer die feinen Streifen in Gelb-Rosa-Weiss, die zarten Bleistiftlineaturen über ockerfarbigen oder bläulichen Bildgründen erkundet, die sie in der Abgeschiedenheit der Wüste von New Mexico geschaffen hat, findet darin die Stille, den Wind und das Licht. Die Essenz des Seins.
Sabine Altorfer
Hinter den Mauern des Klosters Heiligkreuz in Cham neigt sich eine besondere Periode zu Ende: die 40-tägige Fastenzeit. Wer nun an dünne Suppen denkt, der irrt.
sagt Priorin Simone Buchs. Vielmehr bereiten sie und ihre Mitschwestern sich auf die Osterfeier vor – das Fest der Erlösung. Konkret heisst das: an den eigenen Schwächen arbeiten, für die Armen spenden und mehr Zeit dem Gebet widmen.
Vieles davon obliegt der Eigenverantwortung der einzelnen Ordensschwestern. Sie widmen sich ihren persönlichen Vorsätzen: Beispielsweise geduldiger zuhören oder auf eine Person zugehen, mit der man sonst eher wenig Kontakt hat. Das geschehe nicht zum Selbstzweck, sagt Simone Buchs:
Seit mehr als fünfzig Jahren lebt sie im Kloster Heiligkreuz. Geboren 1945, trat sie als 23-Jährige in den Orden ein. Als Benediktinerin bestimmen zwei Dinge ihren Alltag: das Gebet und die Arbeit.
Wer sich für ein klösterliches Leben entscheidet, verzichtet – zumindest in der Aussenwahrnehmung – auf vieles. Was ist ihr besonders schwergefallen? «Das Einfügen in eine Gemeinschaft und nicht mehr machen zu können, was ich wollte», sagt die heutige Priorin. Das geht auf das Gelübde des Gehorsams zurück. Dieses bedeute aber nicht den völligen Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben: «Wir sind aufgefordert, innerhalb der Regeln eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.»
Das Gefühl, auf vieles verzichten zu müssen, hatte sie indes nie: «Mit dem Eintritt ins Kloster habe ich mich gegen einen Partner und Kinder entschieden. Das klösterliche Leben ist ein anderer Weg, aber ein abwechslungsreicher und spannender. Es gibt dabei viele Möglichkeiten, sich selber zu entwickeln.»
Als Ordensfrau studierte sie Germanistik und Romanistik. Danach unterrichtete sie am Lehrerinnenseminar Heiligkreuz. Reisen an Konferenzen oder zwecks einer Wallfahrt sind den Ordensschwestern erlaubt. Ferien ebenso, wenn auch mit gewissen Beschränkungen. «Reisen nach Übersee machen wir nicht. Auch keine Vergnügungsreisen. Wir achten darauf, was einer Klosterfrau zuträglich ist, was zu ihrem einfachen Lebensstil passt und dass sie ihr geistliches Leben weiterführen kann», sagt Simone Buchs. Für einige könne dies ein Verzicht bedeuten; für sie jedoch nicht, da sie nicht sehr reisefreudig sei.
Als Priorin einer älteren Gemeinschaft fordert sie die Coronakrise. Dennoch sieht sie darin auch eine Chance:
Zudem bedeute Verzicht auch, Ballast abzuwerfen: «Und das bringt ein Gefühl von Leichtigkeit mit sich.»
Annika Bangerter
ich habe einen sicheren lohn. ein gutes umfeld. die entschleunigung tut mir extrem gut. ich habe vermehrt zeit für private projekte und habe wald und natur neu entdeckt.