Es ist je nach Standpunkt der letzte Rettungsversuch. Oder eine Mission Impossible mit Ansage. Die Erwartungen an das Treffen von Bundespräsident Guy Parmelin mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag in Brüssel gehen weit auseinander – wie immer, wenn es um das institutionelle Abkommen (InstA) geht.
Seit bald zweieinhalb Jahren arbeitet sich der Bundesrat am vorliegenden Vertragswerk ab. Und ist nach zahlreichen Konsultationen, Klausuren und stundenlangen Beratungen so schlau wie zuvor. Zuletzt beugte er sich dreimal innerhalb von einer Woche über das Dossier. Was dabei herauskam, wollte er auch am Mittwoch nicht kommunizieren.
Der Bundesrat würde das Rahmenabkommen wohl am liebsten durch den Shredder jagen. Doch damit gefährdet er den bilateralen Weg, der der Schweiz seit 20 Jahren einen sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt ermöglicht. Einen brauchbaren Plan B konnte er nicht entwickeln, weil alle Alternativen voller Fallstricke für die Schweiz sind.
Das Treffen soll um 10 Uhr beginnen. Unklar ist, ob es einen gemeinsamen Auftritt vor den Medien geben wird. Parmelin reist allein nach Brüssel. Aussenminister Ignazio Cassis muss zu Hause bleiben. Der Bundesrat begründet dies mit dem Wunsch von Ursula von der Leyen. Sie wolle aus protokollarischen Gründen nur den Bundespräsidenten treffen.
Allerdings sprach sie am WEF 2020 in Davos gleich mit drei Bundesratsmitgliedern. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass Cassis von seinen Kolleginnen und Kollegen ausgebootet wurde. Sie sollen dem Tessiner vorwerfen, bei diesem heiklen Dossier versagt zu haben. Entsprechende «Indiskretionen» aus dem Bundeshaus sind aber mit Vorsicht zu geniessen.
Pikant ist, dass mit Guy Parmelin ein Vertreter der EU-feindlichen SVP das Gespräch führen wird, das über Sein oder Nichtsein des Rahmenabkommens entscheiden könnte. Doch der Waadtländer muss als zuständiger Departementschef auch die Interessen der Wirtschaft im Auge behalten. Es allen recht machen kann er jedenfalls nicht.
Offiziell verlangt der Bundesrat Klarstellungen in den drei Punkten Unionsbürgerrichtlinie, Lohnschutz und staatliche Beihilfen. Im letzten Punkt sollen sich Chefunterhändlerin Livia Leu und Stéphanie Riso, die stellvertretende Kabinettschefin von Ursula von der Leyen, angenähert haben. Schlecht sieht es bei den anderen Punkten aus.
Bei den flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping schalten die Gewerkschaften auf stur. Und die Unionsbürgerrichtlinie ist für Bürgerliche und Wirtschaftsvertreter ein rotes Tuch. Sie ermöglicht Zuwanderern aus der EU einen erleichterten Zugang zur Sozialhilfe. Für die EU ist sie ein Bestandteil der Personenfreizügigkeit und darum nicht verhandelbar.
Die dynamische Übernahme von EU-Recht und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung für den Fall, dass die Schweiz dagegen verstösst, sind offiziell nicht Bestandteil der Gespräche. Doch angesichts des heftigen Widerstands in der Schweiz sind sie sehr wohl ein Thema, wie aus einem Sitzungsprotokoll hervorgeht.
Am letzten Freitag orientierte Stéphanie Riso die ständigen Vertreterinnen und Vertreter der 27 Mitgliedstaaten in Brüssel über den Stand der Dinge. Und sparte nicht mit Vorwürfen, wie aus dem Protokoll hervorgeht, das «zufällig» an Schweizer Medien gelangte. Die Übernahme von EU-Recht und der EuGH seien «der Kern des Rahmenabkommens».
Riso habe in den Gesprächen mit Livia Leu erfahren, «dass der Vertragsentwurf von 2018 in Bern mittlerweile nur noch als Vorschlag und nicht als theoretisch unterschriftsreifes Dokument angesehen werde», schreibt die NZZ. Die Schweiz habe offensichtlich das Interesse am institutionellen Abkommen verloren, meinte die Französin.
Bis jetzt konnte er sich nicht auf einen Plan B verständigen. Für die von Cassis offenbar ins Spiel gebrachte und von InstA-Gegnern als «Wundermittel» angepriesene Aufdatierung des Freihandelsabkommens von 1972 müsste die Schweiz ihren Agrarmarkt für EU-Importe öffnen. Auch die staatlichen Beihilfen würden in diesem Fall wieder ins Spiel kommen.
Im Gespräch ist deshalb eine Art Interimsabkommen, in dem die EU die Fortführung des Status Quo garantiert und die Schweiz im Gegenzug über die blockierte Kohäsionsmilliarde hinaus mehr Geld an die EU überweist. Brüssel aber hat wiederholt betont, man lasse sich nicht kaufen. Und mit einem solchen Abkommen wäre das Problem nur aufgeschoben.
In mehreren Medien wird auch die Idee ventiliert, dass die Schweiz Zuwanderern aus den 13 Staaten der Osterweiterung die volle Gleichbehandlung mit jenen aus der «alten» EU gewährt. Bislang sind sie in gewissen Bereichen noch benachteiligt. Im Gegenzug soll die EU Zugeständnisse bei der Unionsbürgerrichtlinie machen. Dazu dürfte sie kaum bereit sein.
Die gezielten Indiskretionen an Schweizer Medien zeigen, wie verärgert die EU über die Hinhaltetaktik ist. Sie sind auch ein offensichtlicher Druckversuch an die Adresse des Bundesrats. Das Abkommen wird die EU von sich aus aber nicht beerdigen. Sie hat keine Lust, den Sündenbock zu spielen.
Ein Durchbruch am Freitag wäre mehr als ein kleines Wunder. Zu weit sind beide Seiten voneinander entfernt. Vergleiche mit dem Brexit-Deal von Ende 2020 führen in die Irre. Damals ging es darum, den totalen Bruch zu verhindern. Beim InstA aber geht es um die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs. Sie ist vor allem im Interesse der Schweiz.
Ein sofortiger Abbruch durch den Bundesrat ist ebenfalls unwahrscheinlich. Am Montag muss er sich vor der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats äussern. Präsidentin Tiana Moser (GLP, ZH) hat gleich vier Mitglieder aufgeboten. Auch die Kantone pochen laut der «NZZ am Sonntag» auf ihr Mitwirkungsrecht in aussenpolitischen Fragen.
Der Bundesrat dürfte weiter auf Zeit spielen. Gleichzeitig haben die InstA-Befürworter die Initiative übernommen, nachdem sie das Feld lange den Gegnern überlassen hatten. Yves Zumwald, CEO der Netzgesellschaft Swissgrid, betonte am Mittwoch, ein Stromabkommen mit der EU sei «extrem wichtig». Ein solches gibt es aber nur mit dem Rahmenvertrag.
Martin Hirzel, Präsident des Industrieverbands Swissmem, warnte in der «NZZ am Sonntag», dass die Schweiz ohne dieses Abkommen Arbeitsplätze verlieren werde. Zu möglichen Alternativen äusserte er sich eindeutig: «Wir haben die Situation analysiert und mussten feststellen: Nichts ist auch nur annähernd so gut wie der Rahmenvertrag.»
Die Frage ist nur: Für welchen Teil der Schweiz?