Die Nervosität ist hoch in Bundesbern. Es steht eine entscheidende Woche an im Verhältnis mit der EU. Am Montag diskutiert die Landesregierung, mit welchem Plan Bundespräsident Guy Parmelin nach Brüssel reisen soll. Er trifft am Freitag EU-Präsidentin Ursula von der Leyen für politische Gespräche zum Rahmenabkommen.
Klar scheint: Der Bundesrat unternimmt noch einen Versuch, das Abkommen zu retten. Dafür machen sich auch die drei Frauen stark. Karin Keller-Sutter (FDP, Simonetta Sommaruga (SP) und Viola Amherd (CVP) haben dies in einem gemeinsamen Gespräch vereinbart.
Parmelin soll ein zweites Gespräch auf politischer Ebene erreichen. Er wird der EU am Freitag nicht das Scheitern des Abkommens übermitteln. Kommt es später doch so weit, braucht es einen vorläufigen Modus Vivendi zwischen der Schweiz und der EU. Aussenminister Ignazio Cassis hat das mit seinem Plan B vordemonstriert. Das erweiterte Freihandelsabkommen war einfach nicht der richtige Weg für die übrigen Bundesräte. Man müsse der EU klarmachen, dass die Schweiz keinen Brexit-Moment anstrebe, sondern die Bilateralen halten wolle, heisst es.
Es gibt sogar wieder leise Hoffnung, dass das Rahmenabkommen doch noch zu Stande kommen könnte. Zwei von drei Problemfeldern, die der Bundesrat mit der EU diskutieren wollte, scheinen lösbar. Die staatlichen Beihilfen sind bereits geregelt. Und beim Lohnschutz scheint eine Lösung auf politischer Ebene in Griffweite.
Nur in einem Punkt will die EU kein Jota nachgeben, wie hochrangige Quellen sagen: bei der Unionsbürgerrichtlinie. Für die Bürgerlichen bis hin in die Mitte ist diese ein rotes Tuch. Sie fürchten eine Einwanderung in die Schweizer Sozialhilfe.
Bei der Unionsbürgerrichtlinie gibt es aber eine Lösung für die Schweiz. Das sagt kein Geringerer als Philipp Müller, Ex-Präsident der FDP und ehemaliger Ständerat. Müller setzte sich nächtelang mit dem Thema auseinander. 2019 drehte er in einem Seminar die gesamte FDP-Fraktion. Der Parteivorstand wollte ein «Ja, aber» als Stellungnahme zum Rahmenabkommen. Es gab viele Vorbehalte, vor allem zur Unionsbürgerrichtlinie.
In fünf Stunden entkräftete Müller die Vorbehalte Punkt für Punkt, auch jene gegen die Richtlinie. Die Fraktion stimmte dann mit 25:3 Stimmen für ein «Ja aus Vernunft», wie es Müller empfahl. Noch heute stehen zwei Drittel der Fraktion hinter diesem Beschluss.
Müller gab in dieser Zeit mehrere Interviews zur Unionsbürgerrichtlinie. «Ich stehe nach wie vor zu diesen Interviews», betont er. Aber seit seinem Rücktritt als Ständerat äussere er sich ansonsten «nicht mehr zu politischen Ereignissen».
Die Unionsbürgerrichtlinie wird im Rahmenabkommen gar nicht erwähnt – weil sich die EU und die Schweiz nicht einig wurden. Die EU fordert schon länger, dass die Schweiz diese Richtlinie übernimmt. Das will die Schweiz aber nicht, denn die Richtlinie bietet den EU-Bürgern erleichterten Zugang in die Sozialhilfe des Landes. Die Schweiz fordert deshalb von der EU eine Erklärung, dass die Richtlinie explizit vom Rahmenabkommen ausgenommen bleibt. Die EU will diese aber partout nicht geben.
Doch was würde geschehen, sollte die EU die Richtlinie einfordern, wenn das Abkommen gültig wäre? Es tritt ein ausgeklügelter Streitbeilegungsmechanismus in Kraft. Das Thema kommt vor den gemischten Ausschuss, der für die Personenfreizügigkeit zuständig ist. Einigt sich dieser nicht, wird das Schiedsgericht eingeschaltet.
Da es hier um die Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung geht, die für die Streitbeilegung relevant und nötig ist, ruft es den Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Dieser hat ausschliesslich die Aufgabe, unionsrechtliche Begriffe auszulegen. Seine Auslegung ist für das Schiedsgericht verbindlich. Der abschliessende Entscheid liegt allein beim Schiedsgericht.
Es ist denkbar, dass dieses sagt, die Schweiz müsse die ganze Richtlinie übernehmen. Die Schweiz kann das gemäss Artikel 10 Ziffer 6 verweigern. Dann darf die EU Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen aber verhältnismässig sein. Bestreitet die Schweiz deren Verhältnismässigkeit, kann sie dies dem jeweiligen gemischten Ausschuss vorlegen. Einigt er sich nicht, kommt das Schiedsgericht zum Zug. Es ist paritätisch zusammengesetzt – mit einem neutralen Dritten. Es entscheidet autonom und abschliessend, der EuGH spielt keine Rolle mehr.
Nur: Was würde das Schiedsgericht bei der Unionsbürgerrichtlinie entscheiden? Dass die Schweiz einen Teil der Richtlinie übernehmen muss: etwa das Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren mit Anspruch auf Sozialhilfe. Müller: «Das wäre für die Schweiz verhältnismässig.» Damit könnte er «durchaus leben». Dies gelte gemäss Artikel 34 des Ausländergesetzes auch für Drittstaaten, also Länder aus Afrika, Asien und den USA. Eine integrale Übernahme kann das Schiedsgericht nicht anordnen. Müller: «Das wäre nicht verhältnismässig.»
Das Fazit von Müllers Aussagen: Mit dem Rahmenvertrag besitzt die Schweiz, anders als heutzutage, die Instrumente, um sich gegen Willkür der EU zur Wehr zu setzen. «Diese Einschätzung ist korrekt», sagt der ehemalige Ständerat. In den Interviews von 2019 hielt er zusätzlich noch fest: «Mit dem Rahmenvertrag kommt ein geordneter Prozess in Gang, wenn die Schweiz es ablehnt, eine EU-Richtlinie zu übernehmen. Heute drangsaliert uns die EU einfach. Das ist pure Willkür.»
Eines müsste die Schweiz dann lernen: gegen Verletzungen von Verträgen zu prozessieren. Das ist in der EU alltäglich. Der Schweiz aber ist das fremd.
Das sagt einiges über das Ungleichgewicht der Positionen aus.