Schweiz
Romandie

Wahlrecht trotz Behinderung: Schweizer Premiere in Genf?

Wahlrecht trotz Behinderung: Genf entscheidet über eine Schweizer Premiere

Menschen unter Beistandschaft, deren Intellekt eingeschränkt ist, dürfen heute politisch nicht mitentscheiden. Eine Verfassungsänderung könnte dies in Genf nun ändern – und für andere Kantone wegweisend sein. Doch manche Politiker warnen.
27.11.2020, 11:0427.11.2020, 11:05
Benjamin Weinmann / CH Media
Mehr «Schweiz»

Wer die Wahl hat, hat die Qual. Doch manche Menschen haben gar keine Wahl, und das sei die deutlich grössere Qual. So lautet zumindest das Argument der Befürworter einer schweizweit einmaligen Vorlage, über welche am Sonntag in Genf befunden wird. Sie verlangt, dass jeder erwachsene Bürger seine politischen Rechte ausüben darf. Auch solche, die unter Beistandschaft stehen und deren Intellekt eingeschränkt ist.

ARCHIVBILD - ZUR NACHBEFRAGUNG ZUM NEIN DER REFORM DER ALTERSVORSORGE 2020 VOM SONNTAG, 24. SEPTEMBER 2017, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG --- Eine Frau wirft ihren Abstimmung ...
Nicht alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger im Erwachsenenalter dürfen heute an die Urne. Das will der Kanton Genf ändern.Bild: KEYSTONE

Denn heute haben Menschen mit Beistandschaft in der Schweiz in der Regel keine Möglichkeit, ihre politischen Rechte auszuüben. Wer nicht urteilsfähig ist, soll auch nicht abstimmen können – so die Haltung, die vom Bund mitgetragen wird. Die Teilnahme am politischen Diskurs wird verwehrt.

Beistandschaft heisst: Behörden können gemäss dem Erwachsenenschutzrecht verlangen, dass eine urteilsunfähige und somit handlungsunfähige, volljährige Person eine rechtliche Vertretung erhält. Der Beistand kann dann die betroffene Person bei privaten Anliegen wie der Einkommens- und Vermögensverwaltung unterstützen. Menschen mit Trisomie-21 und psychischen Beeinträchtigungen erhalten häufig einen Beistand.

1200 Genferinnen und Genfer würden neu wählen dürfen

Rund 1200 Personen würden von der Verfassungsänderung in Genf profitieren. Das kantonale Parlament empfiehlt die Vorlage mit 56 Ja- zu 32-Nein-Stimmen zur Annahme. Auch die Regierung spricht sich für ein Ja aus.

Dabei geht Genf schon heute einen Schritt weiter als die anderen Kantone: Während im Rest des Landes die politischen Rechte automatisch entzogen werden, sobald jemand unter Beistandschaft gesetzt wird, ist in Genf seit 2013 ein Gerichtsentscheid dafür nötig.

«Das mag nach Fortschritt klingen», sagt Cyril Mizrahi, SP-Grossratsmitglied und Anwalt bei der Organisation «Inclusion Handicap», die sich für eine Annahme einsetzt. «Doch rückblickend war es ein Fehler, diesen Entscheid einem Richter zu überlassen.» Diesen fehle die nötige Kompetenz, um einschätzen zu können, ob jemand seinen politischen Willen ausdrücken könne oder nicht. Und die Praxis habe gezeigt, dass die Urteile oft restriktiv ausfielen.

Mizrahi verweist auf die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. «Unsere heutige Regelung ist schlicht nicht kompatibel mit den Vorgaben der UNO, auch wenn der Bund dies anders zu sehen scheint.»

Im Kern gehe es um die Würde jedes einzelnen Bürgers und dass niemand wegen seiner intellektuellen Fähigkeiten benachteiligt werde. Doch heute würden zahlreiche Menschen ihrer politischen Rechte beraubt. Er und das Unterstützungskomitee erhoffen sich denn auch ein Ja mit Signalwirkung, so dass andere Kantone dem Beispiel Genf folgen könnten.

FDP-Politiker: «Ausländer können schliesslich auch nicht abstimmen»

FDP-Grossratsmitglied Murat Julian Alder sieht dies anders. Er ist Teil eines Minderheitskomitees, das sich gegen die Vorlage wehrt. Er bezeichnet das heutige Genfer Modell als modern und fair. Es sei dem Rest der Schweiz voraus. Zudem sei es erst 2013 eingeführt worden. «Man sollte es also zuerst einmal genau analysieren, bevor es wieder über den Haufen geworfen wird.»

Doch sind politische Rechte nicht auch Menschenrechte? Nicht unbedingt, sagt Alder. Politische Rechte erhalte man in der Schweiz nicht automatisch: «Ausländer können hierzulande schliesslich auch nicht abstimmen, und das wird nicht in Frage gestellt.»

Es gehe bei dieser Debatte um Menschen, die als dauerhaft nicht urteilsfähig gelten, die also im Alltag in ihrer Entscheidungsfähigkeit massiv eingeschränkt seien, sagt der FDP-Politiker. Würden sie nun Wahlunterlagen erhalten, wäre dies laut Alder ein Risiko.

«Dies könnte Wahlmanipulationen begünstigen, da andere Personen für sie abstimmen und so das Resultat verfälschen könnten.» In der Vergangenheit habe es in Genf immer wieder mal Abstimmungen gegeben, die durch ein paar hundert Stimmen entschieden wurden. Komme hinzu, dass Menschen unter Beistandschaft intellektuell nicht dazu fähig seien, komplexe Politvorlagen zu verstehen.

Eine Frage der gesellschaftlichen Grundsatzhaltung

Markus Schefer lässt beide Argumente Alders nicht gelten. Schefer ist Rechtsprofessor an der Universität Basel und wurde 2018 als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für Behindertenrechte berufen. «Dass jemand nicht wählen soll, weil er oder sie die Vorlage nicht versteht, ist fadenscheinig.»

«Wir alle lassen uns von anderen Personen bei der Meinungsbildung beeinflussen.»
Markus Schefer, Rechtsprofessor

Diesen Sonntag entscheide das Schweizer Stimmvolk über die viel diskutierte Konzernverantwortungsinitiative. «Im Kern ist es eine Frage der Moral, die für viele Wähler rasch mit ja oder nein beantwortbar ist.

Doch im Detail versteckten sich viele Fragen, auf welche die Mehrheit keine prompte Antwort habe, da die Vorlage rechtlich kompliziert sei. Schefer zweifelt, dass die Mehrheit der Wähler die Vorlage bis zum Kleingedruckten gelesen und verstanden habe. «Wieso sollen jene Leute also abstimmen können, Menschen mit Trisomie-21 aber nicht?».

Und was ist mit dem Manipulationsrisiko? Das Risiko, dass jemand die Wahlunterlagen stehlen würde, bestehe auch bei der brieflichen Stimmabgabe bei jedem Bürger. Dass jemand die intellektuell beeinträchtigte Person beeinflussen könne, um entweder Ja oder Nein zu stimmen, sei hingegen völlig klar, sagt Schefer. «Aber bei wem ist das nicht der Fall? Wir alle lassen uns von anderen Personen bei der Meinungsbildung beeinflussen.»

Es gehe bei dieser Vorlage um eine gesellschaftliche Grundsatzhaltung: «Nur weil sich jemand nicht klar ausdrücken kann, heisst das nicht, dass wir sie oder ihn nicht ernst nehmen sollten.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Madeline Stuart – das Model mit dem Down-Syndrom
1 / 13
Madeline Stuart – das Model mit dem Down-Syndrom
Die Australierin Madeline Stuart – mit Down-Syndrom geboren – schafft, was viele nie für möglich hielten. Sie ist als Model international gefragt.
quelle: x02844 / andrew kelly
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Skaten im Rollstuhl geht nicht? Doch! Dieser Typ beweist's und wird von Tony Hawk entdeckt
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
18 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Nordkantonler
27.11.2020 11:22registriert September 2020
Wer in der Lage ist, seinen Willen zu bilden und verständlich zu machen (gerne auch über einen Vermittler), soll das gerne dürfen: wer rein körperlich nicht in der Lage ist, einen Wahlzettel auszufüllen, darf schliesslich ja ebenso Hilfe in Anspruch nehmen.
Weitet man das Wahlrecht jedoch zu weit aus, stellt sich irgendwann die frage, warum dieses nur Erwachsenen zusteht: mit der gleichen Argumentation müsste man es auch auf Kinder und Jugendliche ausweiten.
708
Melden
Zum Kommentar
avatar
Lilamanta
27.11.2020 11:49registriert Dezember 2018
Man sollte vielleicht erwähnen, dass es unterschiedliche Formen von Beistandschaft gibt. Nur was altrechtlich "Entmündigung" hiess, heute "umfassende" Beistandschaft genannt wird, ist gemeint. Die meisten verbeiständeten Personen behalten ihr Wahlrecht.
411
Melden
Zum Kommentar
avatar
Schreimschrum
27.11.2020 11:19registriert April 2018
"Komme hinzu, dass Menschen unter Beistandschaft intellektuell nicht dazu fähig seien, komplexe Politvorlagen zu verstehen"

Lol das ist auch 50% der nicht eingeschränkten Bevölkerung nicht.
313
Melden
Zum Kommentar
18
9 km Stau vor dem Gotthard ++ Einfahrt auf A2 in Höhe Wassen und Göschenen gesperrt

Bereits eine Woche vor den Osterfeiertagen gab es am Gotthard fast zehn Kilometer Stau. Wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt, gehören die Blechlawinen gen Süden und wieder zurück bereits seit mindestens 1987 zur Schweizer Ostertradition.

Zur Story