Wer die Wahl hat, hat die Qual. Doch manche Menschen haben gar keine Wahl, und das sei die deutlich grössere Qual. So lautet zumindest das Argument der Befürworter einer schweizweit einmaligen Vorlage, über welche am Sonntag in Genf befunden wird. Sie verlangt, dass jeder erwachsene Bürger seine politischen Rechte ausüben darf. Auch solche, die unter Beistandschaft stehen und deren Intellekt eingeschränkt ist.
Denn heute haben Menschen mit Beistandschaft in der Schweiz in der Regel keine Möglichkeit, ihre politischen Rechte auszuüben. Wer nicht urteilsfähig ist, soll auch nicht abstimmen können – so die Haltung, die vom Bund mitgetragen wird. Die Teilnahme am politischen Diskurs wird verwehrt.
Beistandschaft heisst: Behörden können gemäss dem Erwachsenenschutzrecht verlangen, dass eine urteilsunfähige und somit handlungsunfähige, volljährige Person eine rechtliche Vertretung erhält. Der Beistand kann dann die betroffene Person bei privaten Anliegen wie der Einkommens- und Vermögensverwaltung unterstützen. Menschen mit Trisomie-21 und psychischen Beeinträchtigungen erhalten häufig einen Beistand.
Rund 1200 Personen würden von der Verfassungsänderung in Genf profitieren. Das kantonale Parlament empfiehlt die Vorlage mit 56 Ja- zu 32-Nein-Stimmen zur Annahme. Auch die Regierung spricht sich für ein Ja aus.
Dabei geht Genf schon heute einen Schritt weiter als die anderen Kantone: Während im Rest des Landes die politischen Rechte automatisch entzogen werden, sobald jemand unter Beistandschaft gesetzt wird, ist in Genf seit 2013 ein Gerichtsentscheid dafür nötig.
«Das mag nach Fortschritt klingen», sagt Cyril Mizrahi, SP-Grossratsmitglied und Anwalt bei der Organisation «Inclusion Handicap», die sich für eine Annahme einsetzt. «Doch rückblickend war es ein Fehler, diesen Entscheid einem Richter zu überlassen.» Diesen fehle die nötige Kompetenz, um einschätzen zu können, ob jemand seinen politischen Willen ausdrücken könne oder nicht. Und die Praxis habe gezeigt, dass die Urteile oft restriktiv ausfielen.
Mizrahi verweist auf die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. «Unsere heutige Regelung ist schlicht nicht kompatibel mit den Vorgaben der UNO, auch wenn der Bund dies anders zu sehen scheint.»
Im Kern gehe es um die Würde jedes einzelnen Bürgers und dass niemand wegen seiner intellektuellen Fähigkeiten benachteiligt werde. Doch heute würden zahlreiche Menschen ihrer politischen Rechte beraubt. Er und das Unterstützungskomitee erhoffen sich denn auch ein Ja mit Signalwirkung, so dass andere Kantone dem Beispiel Genf folgen könnten.
FDP-Grossratsmitglied Murat Julian Alder sieht dies anders. Er ist Teil eines Minderheitskomitees, das sich gegen die Vorlage wehrt. Er bezeichnet das heutige Genfer Modell als modern und fair. Es sei dem Rest der Schweiz voraus. Zudem sei es erst 2013 eingeführt worden. «Man sollte es also zuerst einmal genau analysieren, bevor es wieder über den Haufen geworfen wird.»
Doch sind politische Rechte nicht auch Menschenrechte? Nicht unbedingt, sagt Alder. Politische Rechte erhalte man in der Schweiz nicht automatisch: «Ausländer können hierzulande schliesslich auch nicht abstimmen, und das wird nicht in Frage gestellt.»
Es gehe bei dieser Debatte um Menschen, die als dauerhaft nicht urteilsfähig gelten, die also im Alltag in ihrer Entscheidungsfähigkeit massiv eingeschränkt seien, sagt der FDP-Politiker. Würden sie nun Wahlunterlagen erhalten, wäre dies laut Alder ein Risiko.
«Dies könnte Wahlmanipulationen begünstigen, da andere Personen für sie abstimmen und so das Resultat verfälschen könnten.» In der Vergangenheit habe es in Genf immer wieder mal Abstimmungen gegeben, die durch ein paar hundert Stimmen entschieden wurden. Komme hinzu, dass Menschen unter Beistandschaft intellektuell nicht dazu fähig seien, komplexe Politvorlagen zu verstehen.
Markus Schefer lässt beide Argumente Alders nicht gelten. Schefer ist Rechtsprofessor an der Universität Basel und wurde 2018 als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für Behindertenrechte berufen. «Dass jemand nicht wählen soll, weil er oder sie die Vorlage nicht versteht, ist fadenscheinig.»
Diesen Sonntag entscheide das Schweizer Stimmvolk über die viel diskutierte Konzernverantwortungsinitiative. «Im Kern ist es eine Frage der Moral, die für viele Wähler rasch mit ja oder nein beantwortbar ist.
Doch im Detail versteckten sich viele Fragen, auf welche die Mehrheit keine prompte Antwort habe, da die Vorlage rechtlich kompliziert sei. Schefer zweifelt, dass die Mehrheit der Wähler die Vorlage bis zum Kleingedruckten gelesen und verstanden habe. «Wieso sollen jene Leute also abstimmen können, Menschen mit Trisomie-21 aber nicht?».
Und was ist mit dem Manipulationsrisiko? Das Risiko, dass jemand die Wahlunterlagen stehlen würde, bestehe auch bei der brieflichen Stimmabgabe bei jedem Bürger. Dass jemand die intellektuell beeinträchtigte Person beeinflussen könne, um entweder Ja oder Nein zu stimmen, sei hingegen völlig klar, sagt Schefer. «Aber bei wem ist das nicht der Fall? Wir alle lassen uns von anderen Personen bei der Meinungsbildung beeinflussen.»
Es gehe bei dieser Vorlage um eine gesellschaftliche Grundsatzhaltung: «Nur weil sich jemand nicht klar ausdrücken kann, heisst das nicht, dass wir sie oder ihn nicht ernst nehmen sollten.»
Weitet man das Wahlrecht jedoch zu weit aus, stellt sich irgendwann die frage, warum dieses nur Erwachsenen zusteht: mit der gleichen Argumentation müsste man es auch auf Kinder und Jugendliche ausweiten.
Lol das ist auch 50% der nicht eingeschränkten Bevölkerung nicht.