«Ich war jung, sehr naiv und habe ihm geglaubt.» Ein Satz, der bei Gesprächen mit den mutmasslichen Opfern des Besitzers einer Zürcher Männermodelagentur immer wieder fällt. Auch Leo K.* beginnt seine Geschichte so.
Es ist Sommer 2017, der damals 20-jährige Leo K. will seine Modelkarriere in Fahrt bringen. Eines Tages kriegt er eine Anfrage einer bekannten Zürcher Modelagentur. Ein Treffen wird vereinbart, Leo K. lernt den Besitzer kennen. «Da fing es schon an: Er suchte meine Nähe, hat an meinen Unterhosen rumgezupft und wollte stets engen Körperkontakt.» Zuerst hat sich Leo K. nichts dabei gedacht. So sei halt die Szene, in der er sich bewegt.
«Er war sehr vereinnahmend und hat mir ständig geschrieben. Anfangs wollte er mir Tipps geben, wie ich es in der Branche zu was bringe. Abnehmen war einer davon.» Kurze Zeit später folgte eine Einladung. Der Zürcher Modelagent wollte mit Leo K. ausgehen, ihm die Welt der Mode zeigen. Der 20-Jährige hat eingewilligt.
Das Rendez-vous verlief feuchtfröhlich. Leo K. war gemeinsam mit dem Modelagent und einer Gruppe Freunde unterwegs. «Ich hatte den ganzen Abend ein mulmiges Gefühl. Als ob er nur darauf wartet, bis wir genug betrunken sind.» Mit suffizientem Alkoholpegel folgte dann auch der Move des Modelagenten. Er forderte Leo K. auf, sich auszuziehen.
«Er hat gesagt, ich müsse das machen, wenn ich meiner Karriere helfen will. Er wollte Nacktfotos schiessen. Hier und jetzt, draussen im Park.» Die Bilder würden einem bekannten Fotografen geschickt werden. Leo K. müsse Opfer bringen, um in dieser Branche zu bestehen.
«Ich habe ihm geglaubt und mich ausgezogen», erzählt der heute 23-Jährige. Beim improvisierten Shooting sei der Modelagent ihm immer näher gekommen. Er habe sich an ihm gerieben und seine Genitalien angefasst. «Ich habe es über mich ergehen lassen, in der Hoffnung, dass es meiner Karriere hilft. Ich war wie paralysiert.»
Leo K. hat den Kontakt nach dieser Nacht abgebrochen. Er weiss bis heute nicht, was mit den Fotos passiert ist.
Für Regula Schwager, Psychotherapeutin bei «Castagna», einer Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und erwachsene Frauen und Männer, ist das Vorgehen des Modelagenten typisch: «Dieser Agent nützte seine Machtposition aus. Bei sexuellen Übergriffen spielt Macht und Abhängigkeit eine grosse Rolle.» Sobald diese Abhängigkeit genug gefestigt sei, können Übergriffe beginnen. Dies geschehe häufig subtil und die Opfer realisieren oft erst im Nachhinein, dass sie sexuell ausgebeutet wurden.
Um nicht in diese Falle zu tappen, empfiehlt Schwager, sorgfältig darauf zu schauen, dass ein potentieller Arbeitgeber bei seiner Rolle bleibt und nicht plötzlich anfängt, die Grenzen zu verwässern und private oder auf andere Weise unpassende Situationen zu schaffen.
Und doch kommt es häufig zu sexualisierten Grenzverletzungen bei der Arbeit. Laut Schätzungen wird rund jede dritte Frau und jeder sechste Mann Opfer von sexueller Gewalt. Diese Zahlen bilden laut Schwager aber nur die Spitze des Eisbergs ab. «Die Dunkelziffer ist enorm hoch. Vor allem Männern fällt es oft schwer, sich Hilfe zu holen.»
Der Grund: Das Thema sei für alle Betroffenen mit tiefen Schamgefühlen verbunden. Männer würden häufig nicht darüber sprechen, weil es in ihren Augen nicht zur gängigen Rollenzuschreibung eines Mannes passt. «Sie haben Angst, als Schwächlinge abgestempelt zu werden.»
Scham spielte auch bei Leo K. eine grosse Rolle. Er hat nie jemandem von dem Vorfall erzählt. «Als Mann sollte man sich ja eigentlich wehren können. Ich konnte das nicht. Ich war gelähmt in diesem Moment.» Der Instagram-Kanal, der die Leaks über den Modelagenten verbreitete, ermunterte Leo K., sein Schweigen zu brechen. Er wird nun auch zur Polizei gehen.
Der beschuldigte Modelagent hat derweil einen Anwalt eingeschaltet. Dieser bestreitet gegenüber «20 Minuten» die Vorwürfe. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich ermittelt, es gab eine Anzeige gegen den Agenturbesitzer wegen sexueller Nötigung und sexueller Belästigung. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Mutmassliche Opfer von Sexualstraftaten werden gebeten, sich direkt bei der Polizei zu melden, heisst es bei der Kantonspolizei Zürich.
* Namen der Redaktion bekannt
Ich rate den Opfer, sich bei einer Opferhilfestelle zu melden, und dann gemeinsam mit den Profis dort, den Gang zur Polizei zu erörtern und zu planen.
https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/wo-finde-ich-hilfe/
Bevor man zur Polizei geht, sollte man sich auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Die sind für die Opfer sehr oft retraumatisierend. Sie müssen sich auf längere Verfahren gefasst machen, in denen sie das Erlebte immer wieder aufarbeiten müssen.
Ich wurde nach einem Konzert von ihm kontaktiert und bekam das Angebot bei seiner Modelagentur aufgenommen zu werden.
Ich frage mich gerade nur: Was wäre passiert, hätte ich damals mit meinen 16 Jahren nicht zu grossen Respekt gehabt nach Zürich zu fahren und mich mit ihm zu treffen.
Mir wird grad ein bisschen schlecht wenn ich daran denke wieviele in den vergangen 11 Jahren (und vielleicht ja noch mehr) nicht so viel Glück hatten wie ich...