Herr Siegenthaler, das Bundesamt für Statistik hat die jüngsten Zahlen zum Beschäftigungsbarometer veröffentlicht. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es in der Schweiz 0,6 Prozent weniger Stellen. Das klingt gar nicht mal so schlimm ...
Michael Siegenthaler: Tatsächlich dachte man auf dem Höhepunkt der Krise noch, dass es schlimmer kommen würde. Allerdings ist der Vergleich mit dem Vorjahr nicht so gut, weil im Verlauf des letzten Jahres noch Stellen geschaffen wurden. Und das nicht zu knapp. Darum ist es aufschlussreicher, wenn man die Entwicklung des Arbeitsmarktes seit Ende 2019 anschaut.
Und was sieht man da?
Dass seither etwa 60'000 bis 70'000 Stellen verloren gegangen sind. Und das nur bis im Juni. Die aktuellen Zahlen von Juli und August sind da noch nicht mitgerechnet. Dieser Rückgang in der Beschäftigung ist einer der grössten seit Dekaden. Damit führte die Covid-Krise bereits zu einem grösseren Einbruch der Beschäftigung als die Finanzkrise 2009.
Was für Stellen gingen verloren?
Sehr viele Jobs wurden im Gastgewerbe gestrichen. Zwar sind bei den jetzigen Zahlen jene des guten Sommers in den Berggebieten nicht eingerechnet. Aber insgesamt ist es die Beschäftigung in der Gastro und im Beherbergungsgewerbe, die stark zurückging. Betroffen waren zudem viele temporär Angestellte. Diese Jobs werden in einer Krise als erstes gestrichen. Insgesamt sind die Stellen in der Temporärbeschäftigung um fast 20 Prozent zurückgegangen.
Wer ist vor allem betroffen?
Insbesondere jüngere Personen. Weil es vor allem sie sind, die im Gastgewerbe und in der Temporärbranche beschäftigt sind. Und vorerst mehr Frauen als Männer, da in der Gastronomie aber auch in der gebeutelten Kunst- und Unterhaltungsbranche und im Detailhandel mehr Frauen angestellt sind als Männer. Sowieso zeigt sich in der ersten Phase erstaunlicherweise, dass Frauen von der Covid-19-Krise eher stärker betroffen sind als Männer. Das ist anders als in früheren Wirtschaftskrisen, unter denen Männer typischerweise stärker litten. Das dürfte sich aber bald ändern.
Warum?
Weil sich die Krise jetzt immer mehr auf Exportbranchen wie die Industrie, auf Banken und andere exportorientierte Dienstleistungsbranchen auswirkt. Diese Branchen sind tendenziell eher männerdominiert.
In den Statistiken zeigt sich: Markant gesunken ist die Zahl der offenen Stellen: Um 26,9 Prozent. Was bedeutet diese Zahl?
Das ist ein enormer Einbruch. Zu erklären ist der Rückgang damit, dass viele Unternehmen mit Beginn der Krise einen Anstellungsstopp einführten. Die meisten Firmen wollen ja vorerst keine Angestellte entlassen. Hingegen schafft man in solch unsicheren Zeiten keine neuen Jobs, die dann später allenfalls wieder abgebaut werden müssen. Entsprechend haben vor allem Arbeitslose ein Problem: Es finden nur wenige neue Jobs. Besonders schwierig ist es für Arbeitslose in Branchen, die stark von der Krise betroffen sind.
Was bedeutet das?
Dass die Betroffenen länger arbeitslos sein werden. Auch im Vergleich mit früheren Krisen werden es die Leute, die den Job verlieren, schwerer haben, zurück in den Arbeitsmarkt zu finden.
Welche Stellen sind besonders betroffen?
Sicher Jobs in Branchen, die am unmittelbarsten und am stärksten von der Covid-Krise betroffen sind. Aber nicht nur. Die Krise ist sehr breit und erfasst viele verschiedene Branchen. Das ist im Vergleich zur Finanzkrise 2009 ein grosser Unterschied. Damals gab es verschiedene Branchen, die auch während der Krise wuchsen. So konnten jene, welche die Stelle zum Beispiel in der Industrie verloren, in den Dienstleistungssektor wechseln. Solche Möglichkeiten sind jetzt weniger vorhanden. Gerade weil der Anstellungsstopp viele Branchen betrifft.
Wann werden wir das zu spüren bekommen?
Momentan hat man noch die Möglichkeit, den Betrieb wieder hochzufahren, indem man Leute aus der Kurzarbeit holt, also ohne neue Leute anzustellen. Das ist ein weiterer Grund, warum wenige Stellen geschaffen werden. Schon in den vergangenen Monaten und jetzt immer noch ist es schwierig für Leute ohne Job, eine Stelle zu finden. Man sieht sogar, dass viele Leute wegen dem Stellenmangel aufgehört haben, nach einem Job zu suchen. Das dürfte in den nächsten Monaten so weitergehen, so dass die Arbeitslosigkeit erst im Winterhalbjahr wieder zurückgeht.
Wie sehen denn derzeit die Arbeitslosenzahlen aus?
Die Erwerbslosenquote gemäss Definition des Internationalen Arbeitsamtes ist leicht angestiegen und liegt derzeit bei 4,6 Prozent. Unsere Prognose ist, dass die Arbeitslosenzahlen bis Ende Jahr leicht weiter ansteigen werden. Weil es zusätzlich zum Anstellungsstopp auch zu Konkursen, Umstrukturierungen und Massenentlassungen kommen wird. Erst Anfang 2021 erwarten wir eine Trendumkehr. Doch die Covid-Krise macht sich nur bedingt bei den Arbeitslosenzahlen bemerkbar.
Welche Zahlen sind wichtig?
Eine Zahl, die zu denken gibt, ist jene der Personen ohne Job, die aufgehört haben, aktiv nach Arbeit zu suchen. In den Statistiken tauchen sie nicht als Arbeitslose auf, sondern als Nichterwerbspersonen. Es gibt derzeit 225'000 Nichterwerbspersonen, die zwar grundsätzlich zur Aufnahme einer Beschäftigung bereit wären, aber nicht aktiv nach einer suchen. Verglichen mit vor einem Jahr hat diese Gruppe stark zugenommen, plus 32,8 Prozent.
Warum haben diese Leute aufgehört, nach einem Job zu suchen?
Der Hauptgrund dürfte sein, dass man wenig Aussicht auf eine Stelle hat. In unseren Umfragen zeigte sich zudem, dass einige Stellensuchende Angst haben, sich im Arbeitsprozess mit dem Coronavirus anzustecken. Und ein dritter Grund ist, dass viele während des Lockdowns neue Betreuungspflichten zu Hause hatten.
Aufschlussreich ist auch die Zahl der Erwerbstätigen. Die hat um 1,6 Prozent abgenommen im Vergleich zum Vorjahr. Seit 1993 ist dies das erste Mal, dass die Anzahl der Erwerbstätigen so stark sank.
Richtig. Und interessant ist zudem die Statistik, die aufzeigt, wie viel Erwerbsarbeit pro Erwerbstätigen im zweiten Quartal effektiv geleistet wurde. Das waren rund zehn Prozent weniger als vor einem Jahr. Das ist neben der Erwerbstätigkeit die beste Messzahl, um sich die Auswirkung von Covid-19 auf den Arbeitsmarkt anzuschauen. Denn sie berücksichtigt Reduktionen im Beschäftigungsgrad, die sich in Unterbeschäftigung äussern, und die Kurzarbeit.
Was sagen diese Zahlen über den Zustand des Arbeitsmarktes?
Die Covid-Krise ist wohl die schlimmste Arbeitsmarktkrise, welche die Schweiz seit den 1970er-Jahren gesehen hat. Es sieht nicht gut aus. Aber es sieht etwas besser aus, als anfänglich gedacht. Weil es eine einmalig starke Krise ist, rechnete man mit enorm starken Einbussen. Nun zeigt sich, dass man insbesondere mit dem Instrument der Kurzarbeit doch besser durchgekommen ist, als zuerst befürchtet wurde.
Wer sind die Verlierer?
Das ist noch nicht genau absehbar. Die Verlierer werden dort angesiedelt sein, wo es zu einer permanenten Änderung des Konsumverhaltens kommt. Ein wenig zeichnet es sich ab, dass dies im Flugverkehr, in der Reisebranche und im Gastgewerbe so passieren könnte. Je spezifischer die Kenntnisse eines Angestellten in diesem Bereich ist, umso schwerer wird es für ihn, woanders Fuss zu fassen.
Noch sind es eher die Jüngeren, die von der Krise betroffen sind. Wird sich das noch ändern?
Ja. In der ersten Phase der Krise waren vor allem Branchen betroffen, in denen jüngere Leute arbeiten. Auch sind es grundsätzlich eher die Leute, die weniger Berufserfahrung haben oder die weniger lange in einer Firma sind, die bei einer Krise auf die Strasse gestellt werden. In einer zweiten Phase der Krise wird es zu Betriebsschliessungen und Massenentlassungen kommen. Das wird auch Ältere treffen. Für sie wird es besonders schwierig, wieder eine Stelle zu finden. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass gegen Ende dieses Jahres und Anfang nächsten Jahres immer mehr ältere Personen ohne Job sein und mit Langzeitarbeitslosigkeit zu kämpfen haben werden.
Thx, Captain Obvious!
Wenn das Restaurant voll ist, bekomme ich keinen Tisch mehr. Und nur weil das Restaurant jetzt gerade noch einen weiteren Tische brauchen könnte, baut es nicht gleich aus.
Doch leider funktioniert ein Grossteil der Wirtschaft genau andersrum. Ist der Bedarf da, wird erweitert, ausgebaut und eingestellt. Sinkt die Nachfrage dann, schaut man dumm auf der Wäsche und schiebt die Kosten bzw. Menschen an den Staat ab.