Als der Bundesrat im März den Lockdown verkündete, versprach er gleichzeitig: «Hilfe kommt!». Volkswirtschaftsminister Guy Parmelin und Finanzminister Ueli Maurer gleisten ein riesiges Wirtschaftspaket auf. Kurzarbeit wurde eingeführt, die Arbeitslosenentschädigung um 120 «Krisentaggelder» erhöht.
Gleichzeitig versprach Parmelin, dass das RAV in diesen Krisenzeiten Milde walten lassen werde. Stellensuchende mussten zwischen März und August keine Nachweise ihrer Bewerbungsbemühungen einreichen. Doch bereits um diese Regel foutierten sich so manche RAV-Berater.
Die temporäre Stilllegung der Nachweispflicht bedeutete zudem nicht, dass man sich gar nicht bewerben musste. Die Belege wurden im Nachhinein eingefordert. Und genau das führt nun zu Problemen.
Zum Beispiel bei Ramona Vasquez Ruiz aus dem Zürcher Unterland. Die Reinigungsmitarbeiterin verlor, wie so viele andere auch, ihren Job und meldete sich beim RAV an. «Da ich weder Computer noch Drucker habe und der deutschen Sprache nicht mächtig bin, war ich zur Erfüllung der Bewerbungsvorgaben immer auf Hilfsangebote angewiesen», sagt die 54-Jährige.
Diese Hilfsangebote waren vor Corona auch zahlreich vorhanden. Da gab es zum Beispiel den Schreibdienst der Stadt Zürich oder die Computerarbeitsplätze im RAV selbst. Diese wurden im Frühling jedoch geschlossen. «Beim Internetcafé für Armutsbetroffene wurden die Schlangen immer länger. Dutzende Personen warteten jeweils für zehn bis fünfzehn Minuten Unterstützung», sagt Vasquez Ruiz. Stark frequentierte Orte wollte sie jedoch meiden, deswegen hat sie sich ein kommerzielles Angebot gesucht und eine Beraterin engagiert, die ihre Formulare jeweils richtig ausgefüllt hat.
Dumm nur: Ihre Beraterin erwischte Ende September selbst das Coronavirus und wurde krank. «Das Nachweisformular lag bei ihr und ich bekam es erst viel zu spät zurück». Normalerweise müssen die Bewerbungsnachweise bis zum fünften Tag des Folgemonats eingereicht werden. Vasquez Ruiz schaffte es erst zwei Wochen später.
Sie erklärte sich in einem Mail an ihren RAV-Berater. Doch vergebens. Sie bekam 16 Einstelltage aufgedrückt. Also 16 Tage lang kein Geld. Das entspricht etwa drei Viertel eines Monatslohnes. Und das, obwohl das RAV ohnehin nur 80 Prozent des vorherigen Gehalts ausbezahlt.
Die 54-Jährige wandte sich daraufhin an das Kafi Klick, ein soziales Internetcafé in Zürich, das armutsbetroffenen Menschen bei allerlei Administrationsaufgaben behilflich ist. Gemeinsam erhoben sie Einsprache gegen den Entscheid.
Doch auch das war vergebens: Ihre Einsprache wurde abgewiesen. Begründung: «Es ist Ihre Sache, dass Sie sich so organisieren, dass Sie die Fristen des RAV nicht verpassen.» Und weiter: « ... aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht besteht kein entschuldbarer Grund für die verspätete Einreichung.»
Das gleiche Schicksal widerfuhr der Schwester von Ramona Vasquez Ruiz. Seit einigen Monaten häufen sich solche Fälle im Allgemeinen, findet Fabio Weiler vom Kafi Klick. Er hilft den Arbeitslosen, ihre Briefe und Nachweise zu schreiben.
Auch Martin Mennen, Leiter der kirchlichen Fachstelle bei Arbeitslosigkeit (DFA), erkennt keine Milde in der Sanktionspraxis der Behörden: «Auch wir beobachten in den letzten Jahren eine tendenzielle Verschärfung der Sanktionspraxis seitens der RAV», sagt er. Dies sei dieses Jahr nicht anders. «Sie pochen auf Einhaltung vereinbarter Vorgaben.» Das sei zwar grundsätzlich in Ordnung, jedoch würde er es begrüssen, wenn der «Covid-bedingten Dynamik bei der Beurteilung von Stellensuchbemühungen mehr Beachtung zukäme.» Dies vor allem in besonders von der Pandemie betroffenen Arbeitsfeldern.
Opfer einer solchen Covid-bedingten Dynamik war auch S.N.*. Er wurde zu 4 Einstelltagen sanktioniert, weil er sich aufgrund der geschlossenen Hilfsangebote ausschliesslich telefonisch um Stellen bewarb und für den Monat April keine Bewerbungen nachweisen konnte. «Im April gab es aber schlichtweg keine offenen Stellen», sagt er. Für den gesamten Zeitraum von März bis August hat er mit 57 Bewerbungen das Soll jedoch mehr als erfüllt.
Auch S.N. wandte sich an das Kafi Klick, das wiederum Einsprache gegen den Entscheid erhob. Und in diesem Fall fruchtete diese sogar. Die Sanktion wurde aufgehoben.
Beim Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürichs will man indes nichts von einer milderen Praxis wissen. «Eine ‹mildere Praxis› bestand bei der Anzahl der zu erbringenden Arbeitsbemühungen», sagt Irene Tschopp, Medienverantwortliche des AWA. Der Zeitraum der Milde endete jedoch am 5. September und betraf auch nie die Sanktionspraxis.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) händigte watson auf Anfrage Statistiken über den Anteil Taggeldbezüger mit Einstelltagen seit 2012 aus. Daraus wird ersichtlich, dass es in den letzten 8 Jahren tatsächlich zu mehr Sanktionen gekommen ist. Schweizweit ist der Anteil sanktionierter Taggeldbezüger von 27 auf 30 Prozent gestiegen, kantonal gibt es aber zum Teil grosse Schwankungen. So stieg der Anteil in Genf um fast 40 Prozent.
Grund dafür dürfte ein Auftrag des SECO aus dem Jahr 2014 sein. Damals wurde der Kanton Genf aufgefordert, seine Zahlen auf nationales Niveau zu heben. Dies sollte durch die «Anwendung der gesetzlich vorgesehen Strafen» entstehen, wie Laurent Paoliello, Sprecher des Wirtschaftsamtes in Genf, in einem Artikel von «20 Minutes» sagt. Im Klartext: Der Kanton Genf liess für den Geschmack des SECO zu oft Milde walten.
Gewerkschaften warfen dem RAV dann vor, dass eine Sanktionsquote als Kriterium für die Bewertung von Beratern eingeführt worden sei. Das AWA in Zürich verneint auf Anfrage die Existenz von solchen Quoten. Manuela Cattani, Co-Generalsekretärin der SIT-Gewerkschaft, glaubt das jedoch nicht: «Ohne klare Anweisungen kann man solche Ergebnisse nicht erzielen. Wir haben anonyme Beschwerden von Beratern bekommen, die von Druck erzählten, gegenüber Stellensuchenden strenger zu sein.»
Aktuelle Daten aus dem Jahr 2020 wollen sowohl das SECO als auch das AWA nicht herausgeben. Beim AWA heisst es, dass es Probleme bei der Abgrenzung der Sanktionierungen gebe, und das SECO begründet die Geheimhaltung damit, dass die diesjährigen Daten mit jenen aus dem Vorjahr nicht vergleichbar seien und man sie dementsprechend in Kontext stellen müsste.
Urs Zbinden, Freiwilliger beim Solifon, einer basisgewerkschaftlichen Hilfshotline, vermutet andere Gründe: «Auch wir haben mehr Fälle von Auseinandersetzungen mit dem RAV und den Arbeitslosenkassen. Ich vermute, es besteht ein starker Kostendruck». Im Frühling sei man noch relativ kulant gewesen, in letzter Zeit wurde die Schraube aber spürbar angezogen. Verlierer dabei sind vor allem jene, die sowieso schon auf der Verliererseite stehen.
*Name der Redaktion bekannt
Das RAV braucht eine Generalüberholung. In dieser Form völlig unbraucher, kontrollieren kann auch ein Computersystem. Die RAV-Berater sind meiner Meinung nach keine Berater sondern Kontrolleure.
Werde ich dazu gezwungen, 15 Bewerbungen zu schreiben, obwohl nur 5 Stellen ausgeschrieben sind, die eine realistische Chance darstellen, werden 10 Unternehmen zu einem sinnlosen und teuren bürokratischen Aufwand genötigt. Da fehlt es an Vernunft.