Am 10. Juni kommt eine der komplexesten Vorlagen der jüngeren Schweizer Geschichte vors Volk. Die Vollgeld-Initiative. Ganz grob gesagt, will diese den Geschäftsbanken verbieten, Geld zu schaffen.
Blickt man ein bisschen genauer hin, so stolpert man schnell über einen Wust an Fachbegriffen und über den «mysteriösen Prozess» («ARD») der Geldschöpfung.
Weil die letzte Lektion in Finanzwissenschaften vielleicht schon länger her ist, und damit du dir in der Debatte einen Überblick verschaffen kannst, beantworten wir im Folgenden die 7 wichtigsten Fragen zur Abstimmungsvorlage.
Die Nationalbank hat heute ein Monopol auf der Ausgabe von Banknoten. Diese machen aber nur rund einen Zehntel des vorhandenen Geldes aus. Die übrigen 90 Prozent werden nach Angaben der Initianten von den Geschäftsbanken erzeugt. Es handelt sich um virtuelle Werte, die in der Regel nur als Zahl auf einem Bildschirm oder einem Kontoauszug existieren.
Dieser weitaus grössere Betrag, Buchgeld genannt, wird aktuell von den Geschäftsbanken geschaffen – aus der Luft, wie die Initianten sagen. Stark vereinfacht geben dabei Geschäftsbanken Kredite an Firmen oder Privatpersonen, zum Beispiel 100 Franken. Dieser Betrag wird auf dem Konto der Firma gutgeschrieben. Dabei existiert kein oder nur ein geringer Gegenwert.
Natürlich können Geschäftsbanken nicht unbeschränkt Geld erzeugen. Die Höhe der Geldschöpfung wird beeinflusst durch das Vertrauen in die Banken, die Kreditnachfrage und die Regulierungen.
Trotzdem: Das gegenwärtige System ist den Verfechtern der Vollgeld-Initiative zu unsicher. Weil Banken Profitinteressen verfolgten, würden sie regelmässig zu viel Geld schaffen, argumentieren sie. Das führe zu Blasen und Geldentwertung.
Die Initiative will den Geschäftsbanken das Geschäft mit der Geldschöpfung via Kredite entziehen. Neu soll die Notenbank auch das Monopol auf Buchgeld erhalten, nicht nur auf Bargeld, wie bisher.
Die Geschäftsbanken könnten zwar weiterhin Kredite vergeben, allerdings nur, wenn diese Kredite durch Einlagen hunderprozentig gedeckt sind. Das heisst, das alles Geld – ob Banknoten, Münzen oder elektronisches Buchgeld – zukünftig alleine von der Nationalbank herausgegeben würde.
Dieses Geld könnten die Geschäftsbanken auch verleihen. Das Geld auf Zahlungskonten hingegen würde den Kontoinhabern gehören und nicht verloren gehen, wenn eine Bank in Schieflage gerät. Damit würden die Banken allen anderen Unternehmen und Privatpersonen gleichgestellt, argumentieren die Initianten.
Jenen Teil des Geldes, den die Nationalbank nicht an Geschäftsbanken vergibt oder zum Kauf von Devisen verwendet, soll sie Bund, Kantonen und Bürgern gratis zur Verfügung stellen.
Laut Initianten sollen sich mit der Vollgeld-Initiative zwei Dinge ändern. Erstens soll das Finanzsystem stabiler werden, weil mit dem Notenbankmonopol Inflationen und Spekulationsblasen verhindert würden. Und zweitens würden Bund, Kantone und Bevölkerung in den Genuss von Hunderten Milliarden Franken kommen.
300 Milliarden Franken Ausschüttung versprechen die Initianten, hinzu komme eine jährliche Dividende von 5 bis 10 Milliarden Franken. Die 300 Milliarden ergeben sich gemäss Initianten aus der Umwandlung von Buchgeld zu Vollgeld. Die Rechnung ist allerdings sehr umstritten. Kritiker weisen daraufhin, dass die 300 Milliarden Franken faktisch eine Ausschüttung des Nationalbank-Vermögens sei.
Die Befürworter versprechen sich vor allem zwei Verbesserungen: Too-Big-To-Fail-Banken würden nach der Annahme nicht mehr existieren, ebensowenig könnten Banken-Runs stattfinden, bei denen verunsicherte Sparer in Krisenzeiten ihre Einlagen aus der Bank abziehen. Dies, weil die direkt verfügbaren Zahlungsverkehrskonti künftig zu 100 Prozent von Notenbankgeld gedeckt wären.
Allerdings weisen Experten darauf hin, dass die Gefahr eines Bank-Runs in der Schweiz sowieso gering sei. Auch während der Finanzkrise sei dies kaum der Fall gewesen. Damals lag das Problem vor allem an dem fehlenden Vertrauen im Interbankensystem, also dass sich Geschäftsbanken untereinander kein Geld mehr leihen wollten und so in Liquiditätsnöte gerieten.
Die Gegner der Initiative argumentieren, dass das Finanzsystem eher instabiler würde. Unter anderem würden Bankdienstleistungen teurer, die Kreditversorgung wäre erschwert und die SNB aufgrund der direkten Geldverteilung an Staat und Bevölkerung im Fokus von politischen Verteilkämpfen.
Hinzu kommt, dass gemäss Gegnern die Unsicherheiten nach einer Annahme gross wären. Man dürfe das Finanzsystem nicht leichtfertig in ein Experimentierfeld verwandeln, so der Tenor.
Die Initianten der Vollgeld-Initiative sind eine bunte Mischung aus Ökonomen, Aktivisten und Pensionierten. Bekannte Gesichter sind nicht darunter. Mit der Unterstützung Hunderter Freiwilliger, Stand- und Flyeraktionen wollen sie in den kommenden drei Monaten eine Mehrheit der Stimmbürger auf ihre Seite ziehen. Das dürfte schwierig werden.
Auf der anderen Seite beobachten Wirtschaftswissenschafter aus dem Ausland mit Spannung den Entscheid am 10. Juni. Auch in anderen Ländern wird momentan über einen Wandel im Finanzsystem diskutiert. Nähme die Schweiz eine Vorreiterrolle ein, könnte das Ausland aus den hiesigen Erfahrungen lernen, so die Überlegung.
Kurz: Alle anderen. Der Bundesrat empfahl die Initiative zur Ablehnung, ebenso Stände- und Nationalrat. Einzig eine kleine Minderheit von SP-Exponenten unterstütze im Parlament die Initiative. Es wird erwartet dass sich die grossen Parteien von SVP bis zu den Grünen mehrheitlich dagegen aussprechen, ebenso Verbände und Organisationen. Auch die Nationalbank, die laut Aussagen der Vollgeld-Befürworter gestärkt würde, warnt vor der Annahme: «If it ain't broke, don't fix it», sagte Nationalbank-Präsident Thomas Jordan.
Wer sich tiefer ins Vollgeld-System einlesen möchte, findet hier einen neutral verfassten Leitfaden. Darin ist auch eine Art Empfehlung für die Stimmbürger enthalten: Wer der Meinung ist, dass die Nationalbank den Geldbedarf der Volkswirtschaft besser einschätzen könne als die Geschäftsbanken, dem entspricht gemäss Autoren des Papiers die Volksinitiative. Und umgekehrt.
In einem zweiten Schritt könne man sich überlegen, ob das nationale Vermögen besser von der Nationalbank oder vom Staat verwaltet werden soll: wer auf den Staat tippt, der könne sich mit der Initiative anfreunden. Wer auf die Nationalbank tippt, eher weniger.
Damit wird die Vollgeld-Initiative zu einer Glaubensfrage.
Mit Material der sda.