Im Frühjahr herrschten klare Verhältnisse. Der Bundesrat beschloss am 16. März die ausserordentliche Lage und versetzte das Land in eine Art mehrwöchigen Stillstand. Die betroffenen Branchen klagten über die Folgen des Lockdowns, aber die Bevölkerung verhielt sich diszipliniert und sorgte dafür, dass die erste Corona-Welle rasch gebrochen wurde.
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Nun sind wir mitten in der zweiten Welle, doch von der relativen Einigkeit des Frühjahrs sind wir weit entfernt. Ein Kompetenzgerangel und gegenseitige Schuldzuweisungen sorgen dafür, dass die Fallzahlen hoch bleiben und in einigen Regionen bereits wieder ansteigen. Zahlreiche Konfliktlinien prägen die Schweizer Corona-Politik. Ein Überblick:
Dieser Gegensatz ist ein wenig simpel. Aber als Gesundheitsminister räumt Alain Berset der Bekämpfung der Pandemie Priorität ein. Während Finanzminister Ueli Maurer die Folgen für die Wirtschaft und die Bundeskasse in den Vordergrund rückt. «Angesichts dieser Summen ist es mir als Finanzminister nicht mehr wohl in meiner Haut», sagte er Ende April der NZZ.
In der zweiten Welle haben sich die Fronten aufgeweicht. Berset sah lange die Kantone in der Pflicht, während Maurer seinen Widerstand gegen weitere Stützungsmassnahmen aufgeweicht hat. Aber die Krise hat das Kollegialitätsprinzip und damit das Vertrauen in den Bundesrat strapaziert. Davon zeugen auch die ständigen Indiskretionen an die Medien.
Auf Druck der Kantone übergab der Bund ihnen im Juni den Lead bei der Bekämpfung der Pandemie. Daraus gemacht haben sie wenig. Sie versäumten es im Sommer, sich für die kalte Jahreszeit zu rüsten, durch den Aufbau von Test- und Tracingkapazitäten. Die Folge davon ist die föderale Kakophonie in der zweiten Welle und ein Wirrwarr an Massnahmen.
Der Bundesrat kam zum Schluss, er müsse «das Heft wieder stärker in die Hand nehmen», wie Simonetta Sommaruga am Dienstag sagte. Die Kantone reagierten mit Unmut: «Mit dem Vorgehen des Bundesrats ist eine grosse Mehrheit allerdings nicht einverstanden», hielt die Landesregierung bei der Ankündigung der neuen Massnahmen am Freitag selber fest.
Die Westschweizer Kantone waren von der ersten Welle wesentlich stärker betroffen als die Deutschschweiz. Als die Fallzahlen im Oktober explodierten, reagierten sie deshalb rasch, sie legten erneut grosse Teile des öffentlichen Lebens still. Die Deutschschweizer Kantone hingegen versuchten, die zweite Welle ohne harte Eingriffe in die Wirtschaft zu bewältigen.
Es funktionierte nicht, weshalb die Romandie, die wieder lockern wollte, empört auf die Ankündigung vom Dienstag reagierten. Ihre Wut richtete sich auf ihren bisherigen «Vorzeige-Bundesrat» Alain Berset und nicht zuletzt auf die «Laueris» in der Deutschschweiz, von denen sie sich wieder einmal im Stich gelassen fühlen.
Konfliktlinien gibt es auch in der Deutschschweiz. Ein Beispiel sind die benachbarten Kantone Basel-Stadt, wo Restaurants, Bars und andere Einrichtungen seit dem 23. November geschlossen sind, und Aargau, wo der Regierungsrat trotz beunruhigend hohen Fallzahlen untätig blieb und auf die neuen Massnahmen des Bundesrats wartete.
Statt sich in einer verzahnten Region wie der Nordwestschweiz abzusprechen, kochen alle Kantone ihr eigenes Süppchen und verwirren so die Bevölkerung. Ein anderes Beispiel sind die Nachbarkantone Graubünden, in dem die Restaurants geschlossen und Massentests angeordnet wurden, und St.Gallen mit seiner Laissez-faire-Politik.
Die Corona-Skeptiker sind ein lautstarker und teilweise prominent (Marco Rima, Andreas Thiel) besetzter, aber doch überschaubarer Haufen. Immerhin sind sie so gut organisiert, dass das Referendum gegen das Covid-Gesetz des Parlaments offenbar zustande kommt. Das Gesetz ist seit September in Kraft, die Abstimmung wird aber vermutlich erst am 13. Juni 2021 stattfinden.
Es wäre also in erster Linie ein symbolischer Vorgang, und genau das könnte den Skeptikern zu einem unerwarteten Erfolg verhelfen. Falls wir bis dann dank Impfungen und den wärmeren Temperaturen aus dem Gröbsten raus sind, könnte die Abstimmung zu einem «Denkzettel» für das schlechte Pandemie-Management der Politik werden.
«In diesen Wochen ist mein Vertrauen in die Politik erschüttert», twitterte der Lausanner ETH-Epidemiologe Marcel Salathé im März, als die Politik erst zögerlich auf die anrollende Corona-Welle reagierte. Mit dem Lockdown entspannte sich das Verhältnis. Gerade Salathé äusserte sich wiederholt lobend über die Corona-Politik des Bundesrats.
Hoffentlich verstehen mittlerweile einige Politiker, warum Wissenschaftler bereits im Sommer vor der jetzigen Situation gewarnt haben. Aber man wollte uns damals ja lieber einen Maulkorb verpassen. @RuthHumbel @BaGysi @Damian_Mueller_https://t.co/oFAc3ytoiN pic.twitter.com/6LbeHDO6D0
— Christian Althaus (@C_Althaus) October 22, 2020
Andere waren kritischer, weil die Politik in die zweite Welle «schlafwandelte», trotz Mahnungen etwa der Taskforce des Bundes. Ihrer früherer Präsident Matthias Egger warnte bereits im Juni vor einem erneuten Anstieg der Fallzahlen. Einige Mitglieder echauffierten sich via Twitter, etwa der Berner Epidemiologe Christian Althaus.
Das Verhältnis ist seit Beginn der Pandemie angespannt, wenn auch mit Nuancen. Während sich Verbände wie Economiesuisse eher zurückhaltend äusserten, waren die Corona-Massnahmen vor allem für Vertreter der Binnenwirtschaft regelrecht des Teufels. Besonders empört waren Detailhandel, Gastronomie und Tourismus.
Auf die neuen Verschärfungen reagierte der Gewerbeverband mit einer geharnischten Mitteilung. Der Bundesrat müsse endlich den Nachweis erbringen, dass im Gastrobereich, Detailhandel und auch am Arbeitsplatz eine erhöhte Ansteckungsgefahr herrsche. Andere Verbände wie Gastrosuisse fordern zumindest eine Entschädigung für die Einnahmeausfälle.
Selbst innerhalb der Wissenschaft herrscht kein Konsens. Zu Helden der Corona-Skeptiker wurden der deutsche Arzt Sucharit Bhakdi und seine Frau Karina Reiss mit ihrem Buch «Corona Fehlalarm». Auch in der Schweiz haben sich verschiedene Mediziner kritisch zu dem Corona-Massnahmen geäussert und für eine «differenzierte Durchseuchung» plädiert.
In den Reihen der Wirtschaft gibt es ebenfalls Abweichler. Auf wissenschaftlicher Ebene betrifft dies etwa die 60 Ökonominnen und Ökonomen, die den Bundesrat in einem offenen Brief zu einem zweiten Lockdown aufgefordert haben, gekoppelt mit fiskalischen Massnahmen. Er sei für die Wirtschaft verträglicher als das permanente «Durchwursteln».
Einzelne Branchen haben sich dafür zumindest offen gezeigt, etwa Hotellerie und Tourismus. Für sie kann nur ein neuer Lockdown die Fallzahlen so weit nach unten drücken, dass ausländische Touristen sich für Winterferien in die Schweiz wagen. Nun sind zwar die Skigebiete offen, Gäste aus dem Ausland aber dürften weitgehend ausbleiben.
Die vielen Konflikte erschweren die Bekämpfung der Pandemie und schrecken eine Corona-müde Bevölkerung zusätzlich ab. Leidtragende sind letztlich die Pflegekräfte in den Spitälern sowie den Alters- und Pflegeheimen. Sie liefen jetzt schon «auf dem Zahnfleisch», sagte Alain Berset dem «Blick». Und noch stehen einige harte Wochen bevor.
Und genau seine "ESFAUPE" wirbelt dafür, dass man die Vorschläge des BAG Missachtet!
Wahnsinn!