Liebe Parlamentarierinnen, liebe Parlamentarier
Vielfach haben Sie sich während der bundesrätlichen Notrechts-Phase beklagt. In einer Demokratie müsse das Parlament Verantwortung übernehmen können! Die Legislative müsse trotz Krise die Exekutive kontrollieren! Die Volksvertretung wolle ihren Auftrag wahr nehmen und ihren Beitrag zum Wohl des Landes leisten!
In Eile ist also eine ausserordentliche Session auf die Beine gestellt worden, um die bundesrätlichen Entscheide rund um die Corona-Pandemie zu sanktionieren. Das war auch richtig so, die Parlamentsentscheide tragen dazu bei, dass die Bevölkerung die finanziellen Folgen der Corona-Massnahmen besser akzeptieren kann. Das gilt langfristig.
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Kurzfristig aber haben viele von Ihnen mit Ihrem Verhalten am Rande der Corona-Session wenig dazu beigetragen, dass die Bevölkerung die so wichtigen und einschneidenden Social-Distancing-Massnahmen weiterhin mit einem guten Gefühl oder überhaupt noch befolgt.
Sie haben in Gruppen von weit mehr als fünf Personen und zweifelhaftem Abstand Alkohol getrunken in der Henri-Bar. Sie haben sich dabei auch noch fotografieren und filmen lassen, als wär das das Normalste der Welt.
Zur Erinnerung: Die Zwei-Meter-Abstand- und Fünf-Personen-Regeln sind für die Bevölkerung immer noch empfohlen, beziehungsweise in einer Covid-Verordnung festgeschrieben. Restaurants sind für die Bevölkerung noch immer geschlossen. Selbst wenn die am Montag aufgehen, dürfen immer nur vier Personen am Tisch sein, niemand darf rumstehen und die einzelnen Gruppen dürfen sich nicht mischen.
Um all diese sehr einschneidenden Regeln, die für die Bevölkerung weiterhin und bis auf Weiteres gelten, haben sich einige von Ihnen ein bisschen sehr nonchalant foutiert.
Natürlich könnte man jetzt sagen, nach einem harten Arbeitstag müssen ein Feierabendbierchen oder ein Glas Rotwein drinliegen. Zumal man sich lange nicht gesehen hat. Keine grosse Sache, machen andere ja auch.
Das Problem ist nur: Sie sind nicht die anderen. Sie sind die Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die auf die eigene Führungsrolle während der Pandemie gepocht haben.
Dann müssen Sie sich auch beispielhaft vorbildlich verhalten, wenn Sie in Ihrer von Ihnen selbst reklamierten Führungsrolle in der Bewältigung der Coronakrise ernst genommen werden wollen.
Vielleicht nehmen Sie sich da ein Beispiel an der von Ihnen so kontrollbedürftigen Exekutive. Von links bis rechts haben die Bundesratsmitglieder in grossen Interviews der Bevölkerung mitgeteilt, dass sie rund um die Uhr arbeiteten und bei Müdigkeit zu Feierabend eine der gerade beliebtesten Netflix-Serien schauen.
Die Bundesrätinnen und Bundesräte waren sich ihrer Vorbildrolle bewusst und haben sich öffentlich mit der momentanen Situation weiter Teile der Bevölkerung solidarisiert: Sich am Tag unter schwierigsten Bedingungen und teilweise grosser Unsicherheit bezüglich der Zukunft abrackern und sich am Abend mit ein wenig Realitätsflucht via Netflix begnügen.
«Leading by Example» nennt man das, was die Bundesrätinnen und -räte machen und ich glaube nicht, dass man eine Karin Keller-Sutter oder einen Alain Berset in der derzeitigen Situation gut abgefüllt an der Stehbar filmen kann.
Da haben viele von Ihnen offenbar noch Nachholbedarf und ich möchte Ihnen anraten, sich künftig erst ein wenig in Selbstkontrolle zu üben, bevor Sie irgendjemand anderen kontrollieren wollen.
Hochachtungsvoll
Ihr Maurice Thiriet
Ich muss gestehen: ich habe das Parlament nicht vermisst und von mir aus hätten wir die 3 Millionen für die ausserordentliche Session einsparen können. Dann hätten wir wenigstens die freiwillige Tracing App. Wenn dann wirklich alles vorüber gewesen wäre, hätten sich die Damen und Herren ja wieder im üblichen Rahmen treffen können.