Schweizer haben nicht den Ruf, überaus abenteuerlustig zu sein. Lieber das absichern, was man schon hat. Marc Hirschi ist kein typischer Schweizer. Dem Klischee des gemächlichen Berners entspricht er ohnehin nur, wenn er spricht. Wenn er seiner Arbeit nachgeht, ist fertig mit Ruhe: Der 22-jährige Radprofi sucht sein Heil in der Flucht. Er fährt angriffig, er verblüfft lieber, als dass er verwaltet.
Diese Einstellung, gepaart mit einem überdurchschnittlichen Renninstinkt, hat Hirschi im Jahr 2020 zu einem der aufregendsten Velorennfahrer der Welt gemacht. An der Tour de France versuchte er Mal um Mal, eine Etappe zu gewinnen. Im dritten Anlauf gelang es ihm. Erst ein Sturz in einer Abfahrt beendete danach den Traum vom Trikot des Bergkönigs. Der junge Ikarus war zu übermütig geworden und zu nah an die Sonne geflogen. Zum Trost erhielt er die Auszeichnung als kämpferischster Fahrer der Tour.
Nach dem wichtigsten Radrennen der Welt bestritt Hirschi noch drei Rennen – und brillierte ausnahsmlos. Erst sprintete er zu WM-Bronze. Dann gewann er die Flèche Wallone, jenes Rennen, das in einer ultrasteilen Schlusssteigung entschieden wird. Und zum Abschluss wurde er Zweiter bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. Das älteste der fünf Radsport-Monumente gewann er vielleicht nur deshalb nicht, weil Weltmeister Julian Alaphilippe ihn im Sprint regelwidrig behinderte.
Es war ein traumhafter Herbst für Marc Hirschi und für alle Schweizer Radsportfans. Über die Grenzen hinaus fuhr der «Hurricane» in die Herzen der Anhänger. So sollte es 2021 weitergehen. Der Berner besass noch einen Vertrag bis Ende Jahr mit dem Team Sunweb, das neu als Team DSM auftritt. Die Equipe hatte bereits Hirschis Rennprogramm für die erste Saisonphase bekanntgegeben.
Doch gestern überraschte DSM mit der Mitteilung, dass der Vertrag mit Hirschi in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst worden sei. Ein sehr ungewöhnlicher Vorgang zu diesem Zeitpunkt des Jahres, zumal es einen Star der Mannschaft betrifft.
Team DSM and @MarcHirschi are to part ways for the 2021 season. Thanks for everything, Marc!
— Team DSM (@TeamDSM) January 5, 2021
More: https://t.co/ckHtrEaopO pic.twitter.com/t6eLwjw3eq
Die Möglichkeit, dass Hirschi als Dopingsünder ertappt worden ist, kann wohl ausgeschlossen werden. Er hat die DSM-Meldung in einer Instagram-Story gepostet – was er kaum machen würde, wäre die Trennung erzwungen und nicht aus freien Stücken erfolgt. Die Neuorientierung dürfte vielmehr mit einem schönen Haufen Geld zu tun haben.
Weshalb so unvollständig kommuniziert wird, dass nun alle Welt über das neue Team rätselt, weiss wohl nur Hirschis Manager Fabian Cancellara. Statt Fakten deshalb nun Gerüchte. Vor allem ein Name eines neuen Arbeitgebers kursiert: UAE-Team Emirates um Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar. Dessen Teamchef ist mit Mauro Gianetti ein Schweizer, im Herbst seiner Karriere und zu Beginn von Cancellaras Laufbahn fuhren sie in einigen Rennen im gleichen Feld, an der WM 2002 gemeinsam im Nationaltrikot.
Gianettis Ruf ist in der Szene nicht der beste. Er errang seine grössten Erfolge in der EPO-Ära, 1998 soll er wegen des Konsums eines Dopingmittels zehn Tage lang auf der Intensivstation gelegen haben. Das sagten damals die behandelnden Ärzte, Gianetti verklagte sie und will heute nicht über die Vergangenheit sprechen.
Beim finanzstarken UAE-Team könnte Marc Hirschi in den Frühlingsklassikern eine Doppelspitze bilden mit Alexander Kristoff oder mit Matteo Trentin. Ob er an der Tour de France auf eigene Rechnung fahren könnte? Eher dürfte er gemeinsam mit Rafal Majka als Edelhelfer Pogacars vorgesehen sein. Weitere starke Fahrer, die vielleicht Hirschis neue Teamkollegen werden, sind Ex-Weltmeister Rui Costa, Diego Ulissi oder Fernando Gaviria.
Spannend ist auch das Gerücht über einen möglichen Wechsel zu Qhubeka-Assos. Während es sich bei Qhubeka um eine südafrikanische Nonprofit-Organisation handelt, ist Assos ein Schweizer Unternehmen. Die Tessiner stellen Velobekleidung her, die zu den besten auf dem Markt zählt. Das Team ist auf BMC-Rädern aus Grenchen unterwegs – dessen Botschafter Hirschi-Manager Cancellara ist. Und mit Breitling hat jene Uhrenmarke eine Zusammenarbeit mit dem Radteam, die ein persönlicher Sponsor Hirschis ist.
Bei Qhubeka-Assos wäre Marc Hirschi, gerade in Eintagesrennen, die grosse Figur. Und da die Equipe über keinen Favoriten für eine dreiwöchige Landesrundfahrt verfügt (ausser Fabio Aru kratzt nach drei durchzogenen Saisons noch einmal die Kurve), hätte Hirschi auch dort mehr oder weniger freie Hand. In den Raum geworfen wurde auch ein Transfer zu Ineos (kaufen mit viel Geld häufig Toptalente), Ag2r-Citoën (haben mehr Sponsorengelder als früher und fahren auch BMC-Velos) oder Trek-Segafredo (die frühere Equipe von Fabian Cancellara).
Noch ist alles Kaffeesatz-Lesen, weil sich die Hauptbeteiligten in Schweigen hüllen. Sehr lange dürfte dieser Zustand indes nicht anhalten. Mitte Februar beginnt die neue World-Tour-Saison und darauf bereiten sich die Teams in Trainingslagern vor, was angesichts der Corona-Pandemie auch schon ein einfacheres Unterfangen war.
Was sich jetzt schon sagen lässt: Marc Hirschi verlässt das gemachte Nest. Er verlässt das Team, dessen Strukturen zu seinem Aufblühen mitgetragen haben. Das schwierige Jahr der Bestätigung, das Jahr in dem die Gegner ihn in jedem Rennen ganz genau im Auge haben, nimmt er in neuen Farben in Angriff. Das ist ein Risiko. Aber dass es sich lohnen kann, Risiken einzugehen, hat der junge Velorennfahrer aus Ittigen bei Bern spätestens im vergangenen halben Jahr gelernt.