Was unterscheidet einen gewöhnlichen von einem grossen Goalie? Natürlich die Fähigkeit Titel zu gewinnen. Aber es gibt noch einen Faktor: die Persönlichkeit. Grosse Torhüter stehen hin, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Die Gewöhnlichen verkriechen sich im Fuchsbau der Kabine.
Jonas Hiller ist ein grosser Torhüter. Der erste, fatale und spielvorentscheidende Gegentreffer ist – wie wir noch sehen werden – sein Fehler. Er stellt sich nach dem Spiel den Chronistinnen und Chronisten und sucht gar keine Ausreden. Sachlich und freundlich erklärt er die Umstände. Der Puck sei von ausserhalb des Spielfeldes aufs Eis zurückgeprallt und er sei davon ausgegangen, dass das Spiel unterbrochen werde. Deshalb habe er nicht weitergespielt. «Es war ein irregulärer Treffer.» Aber bevor der Eindruck entstehen kann, das sei als Ausrede gemeint, sagt er: «Es ist mein Fehler.»
Hier der Fauxpas von Jonas Hiller in voller Länge 😬 Alle Tore jetzt auf https://t.co/oRPyXodRvq 👀 #NLPlayoffs2019 pic.twitter.com/cv4qKsILNM
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Jonas Hiller nimmt nach seinem Fauxpas die Schuld auf sich, meint jedoch, dass in 99 von 100 Fällen abgepfiffen worden wäre. Was meinst du? 🤔 #NLPlayoffs2019 pic.twitter.com/tC7r8iadOu
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Die zweite Bieler Halbfinal-Niederlage beginnt also mit diesem 0:1, das Jonas Hiller auf seine Kappe nimmt. Dieser Treffer lässt sich mit einem ganz banalen Satz erklären: Eishockey ist ein unberechenbares Spiel, ausgetragen aus einer rutschigen Unterlage.
Der Anfang vom Ende für Biel bringt eines der kuriosesten Tore unserer Playoff-Geschichte (seit 1986).
Jonas Hiller geht davon aus, dass das Spiel unterbrochen ist, stoppt den Puck hinter dem Tor und wischt ihn unbedrängt vors Tor. Verteidiger Marco Maurer sieht das Unheil kommen. Aber er bringt den Puck nicht mehr weg. Simon Moser trifft ins leere Gehäuse zum 1:0.
Biels unglücklicher Goalie reklamiert leidenschaftlich. Der Puck sei zuvor von ausserhalb des Spielfeldes bei der Bieler Spielerbank vom Plexi aufs Eis zurückgesprungen. War das so?
Ein intensives Studium der TV-Bilder mit dem Schiedsrichterchef in der Pause, ein Ortstermin nach dem Spiel, eine ausgiebige Besichtigung der Plexiglasrundung mit Sportchef Martin Steinegger und alle geometrischen Mutmassungen, in welchem Winkel und an welcher Stelle der Puck wohl aufgeprallt ist, um den Weg wieder zurück aufs Eis zu finden, helfen nicht weiter.
An dieser Abrundung des Plexiglas neben der Spielerbank des @ehcbiel ist der Puck vor dem 1:0 des @scbern_news abgeprallt. #EHCBSCB pic.twitter.com/hmr6kytiM4
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Die TV-Bilder (die von den Schiedsrichtern in diesem Falle ohnehin nicht hätten herangezogen werden dürfen) liefern einfach keinen hundertprozentigen Beweis, dass der Puck in vollem Umfang ausserhalb des Spielfeldes war, als er von der Rundung des Plexi bei der Bieler Spielerbank aufs Eis zurückprallte. Einige glauben, der Treffer sei irregulär, andere glauben, der Treffer sei regulär. In diesem Falle bedeutet glauben nicht wissen. Wie hätten es die Schiedsrichter – die übrigens sehr gut waren – unter diesen Umständen wissen können? Sie konnten ja nicht einmal die TV-Bilder zu Rate ziehen.
Es ist eine Situation, die man nicht einmal erfinden könnte. Die Hockey-Wirklichkeit übertrifft wieder einmal die Fiktion. Es ist wie beim berühmten «Wembley-Tor» (Fussball WM-Finale 1966): es gibt keinen Beweis, keine Gewissheit.
Ein seltsames, aber reguläres Tor also. Eishockey ist eben ein so unberechenbares Spiel, dass selbst Jonas Hiller, einer der besten Schweizer Torhüter aller Zeiten von einer kuriosen Situation überrascht werden kann.
Wie sich am Ende zeigen wird, ist dieser fatale erste Gegentreffer eine Hypothek, die von den Bielern nicht mehr amortisiert werden kann. Sie sind dazu verurteilt, der drohenden Niederlage davonzulaufen und inszenieren ein spektakuläres, modernes aber eben auch anspruchsvolles Hockey. Erfolgreich kann es nur cool und selbstbewusst zelebriert werden. Wie aber cool und selbstbewusst sein, wenn man schon vor dem Spiel nervös ist und dann gleich ein solches «Ei» kassiert?
Der SCB gerät nie in Rückstand und muss nie den Ausgleich hinnehmen. Der SCB kann Vorsprung und Spielkontrolle verwalten. Die Bieler geben zwar auch nach dem 0:2 nicht auf. Sie bekommen von den Hockeygöttern sogar eine zweite Chance. Und wieder gibt es Diskussionen.
Grégory Sciaroni checkt Janis Moser in die Bande (26:05 Min.). Der Bieler hat zwar die Scheibe, darf also gescheckt werden. Aber es ist ein Check in die Bande. Das Regelwerk sieht zwei Möglichkeiten vor: 2 plus 10 Minuten oder 5 Minuten plus Restausschluss.
Für einen «gewöhnlichen» Bandencheck gibt es 2 plus 10 Minuten. Aber es ist ein wuchtiger, gefährlicher Bandencheck mit Anlauf. Das scharfe Strafmass (5 Minuten) ist richtig. Die Bieler nützen diese letzte Chance nur zum Anschlusstreffer (1:2). Aber nicht zum Ausgleich. Das ist so fatal wie das kuriose 0:1.
Der SCB gewinnt 5:2. Der SCB kann Playoff. Biel noch nicht. Ist das also der entscheidende Sieg, der sich als der Wendepunkt in diesem Halbfinale erweisen wird? Biel ist auf dem besten Wege zum zweiten Mal hintereinander ein Halbfinale nach einer 2:0-Führung zu verlieren. Dieser Halbfinal ist gelaufen.
Aber so einfach, so logisch ist Eishockey nicht. Und schon gar nicht diese Serie. Lange nach Spielschluss als die Arena schon leer und auch die Helden schon fast alle nach Hause gegangen sind, sagt einer, der es wissen muss: «Ich glaube, Biel gewinnt am Donnerstag in Bern und macht dann am Samstag zu Hause alles klar.»
Der Mann, der das sagt, kennt Biel und Eishockey. Es ist Cyrill Pasche. Eine Legende. Nach mehr als 500 NLB-Partie hat er seine Karriere in Biel nach dem Aufstieg von 2008 beendet und ist heute eine Hockey-Edelfeder für «Le Matin».
Er liefert eine gute Begründung für seine überraschende Prognose: «Die Bieler haben diese Saison bewiesen, dass sie in Bern gewinnen können.» Biel sei in Bern besser gewesen als es das 2:6 vermuten liesse und habe soeben unter unglücklichen Umständen 2:5 verloren. «Wenn sich das Glück wendet, kann alles passieren.»
Doch Biel im Finale? Cyrill Pasche ein Prophet? Wir sollten diese Variante nicht ausschliessen. Wir haben zwar zweimal hintereinander nicht das wahre Biel gesehen. Das «gewisse Etwas», das ein grosses Playoff-Team ausmacht, fehlte in den letzten zwei Partien.
Andrew Ebbett und Damien Riat tauschen einige Nettigkeiten aus 💥 #NLPlayoffs2019 pic.twitter.com/UOB4fx6H0M
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Aber wir haben bis jetzt eben auch noch nie über 60 Minuten konstant den wahren, grossen, unbesiegbaren SCB gesehen. Die grosse Hockey-Maschine SCB läuft noch nicht rund. Es gibt im Maschinenraum noch viel Abstimmungsarbeit. Und Leonardo Genoni war zwar gut. Aber in diesem Halbfinale noch nie der wahre, grosse, unüberwindliche Leonard Genoni.
Die Bieler haben nur eine Chance, wenn sie tief in der Seele an die Möglichkeit glauben, den SCB besiegen zu können. Kopfsache also. Damien Brunner sagt, als er die Arena verlässt und in die Nacht hinausgeht: «Oh ja, dieses Selbstvertrauen haben wir.» Er hat in dieser Serie schon vier Tore erzielt.
Irgendetwas Unvorhergesehenes, Dramatisches, Verrücktes wird in diesem Halbfinale noch passieren. Schliesslich hat ja Jonas Hiller noch etwas gutzumachen.
Dort soll ein Goalie in zwei Spielen zwei Shutouts erreicht haben, und das gegen seinen zukünftigen Arbeitgeber.
Die relativierende Aussage von den "99 von 100 Fällen" wirkt für mich zwar nicht nach Ausrede, aber trotzdem stark beschwichtigend und subtil in die Richtung "Fehlentscheid Schiedsrichter, nicht mein Bock".
Im andern Artikel hat es ein Watson-User kurz und bündig auf den Punkt gebracht:
> Das Spiel läuft bis der Schiri pfeift, das lernt man bereits bei den Kleinsten.
Ich bin überzeugt, dass dieses kuriose Tor durchaus vorentscheidend war im Spiel - die Gedanken/das Momentum driftet zu Gunsten einer Mannschaft.