Diese Woche beginnt für Nationaltrainer Patrick Fischer in Zug bereits die neue Saison. Mit dem «Prospect Camp». Eine Art «Landschul-Woche» für international taugliche Talente. Aber so ganz ist die letzte Saison noch nicht bewältigt. Nach wie vor ist die Frage nach dem «Warum?» des WM-Scheiterns gegen Deutschland nicht beantwortet.
Beschäftigen uns dramatische Niederlagen länger als grosse Siege? Wahrscheinlich ist es so. Ein «dieses Spiel hätten wir niemals verlieren dürfen, wir haben eine Jahrhundert-Chance vergeben» bleibt uns viel länger in Erinnerung, treibt uns ruheloser um als eine Siegesfeier.
In unserer reichen Hockey-Kultur fehlte das Drama einer traumatischen WM-Niederlage auf hohem Niveau. Wir waren ja bisher stets Aussenseiter. Die Penalty-Finalniederlage von 2018 gegen Schweden war zwar ein sportliches Drama. Aber niemandem kam es in den Sinn, Nationaltrainer Patrick Fischer deshalb zu kritisieren.
Inzwischen haben wir in unserem Hockey eine Niederlage, die nicht hätte sein dürfen – Scheitern gegen Deutschland statt WM-Titel. Der verlorene WM-Viertelfinal von Riga gegen die Deutschen (2:3 n.P) bescherte Patrick Fischer viel Kritik. Und sie hat ihm im Sommer keine Ruhe gelassen.
Er hat mit der Nationalmannschaft schon mehrmals knapp und dramatisch verloren. Nach dem Final von 2018 auch den Viertelfinal ein Jahr später 2019 in Bratislava gegen Kanada. Nach einem Ausgleich 0,04 Sekunden vor Schluss in der Verlängerung. Aber eben: das waren ruhmreiche Niederlagen gegen einen Titanen. Siege wären ein kleines Wunder gewesen. Die Schweizer hatten alles zu gewinnen, nichts zu verlieren.
Aber diese Penalty-Niederlage gegen die Deutschen am 3. Juni in Riga ist in unserer neuen Hockey-Historie gleich aus zwei Gründen einzigartig. Erstens waren wir zum ersten Mal in einem Viertelfinal der Favorit. Und das ausgerechnet gegen den Erzrivalen. Und zweitens ging es um mehr als «nur» dieses eine Spiel. Das Ziel war ein viel grösseres: Der erste WM-Titel unserer Geschichte, die 1908 begonnen hat. Wir waren dem Titel so nah – und, wie sich nun gezeigt hat, so fern.
Inzwischen hat sich die nationale Hockey-Lage wieder beruhigt. Längst werden sportliche Kühe mit anderen Hörnern durchs helvetische Mediendorf getrieben. Die WM-Rapporte sind geschrieben. Der Sommer ist ins Land gezogen. Wir treffen Patrick Fischer im «Kupferkessel» zu Hitzkirch. Wer es boshaft mag, kann sagen: Für die goldene Medaille hat es noch nicht gereicht. Aber immerhin für den kupfernen Kessel.
Die Sonne scheint über sanfte Hügellandschaft, die ein wenig an die Bilder von Vincent van Gogh mahnt. Wir sitzen auf der Terrasse dieses Wirtshauses, trinken ein eisgekühltes Wasser. Das Drama zu Riga scheint weit weg zu sein. Aber nicht für Patrick Fischer.
Er hat das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Haare mal lang zu tragen, sei schon immer sein Bubentraum gewesen und während der Corona-Krise habe er die Haare wachsen lassen. Daher also die Rockstar-Frisur. Er wirkt im sanft hellblauen Leinen-Hemd cool und legere. Aber diese Niederlage beschäftigt, fuchst ihn, den ewigen, unerschütterlichen Optimisten immer noch. Das grosse Ziel war der WM-Titel und inzwischen ist ihm klar geworden: Ja, es wäre möglich gewesen.
«Die ersten fünf Tage nach dem Spiel war ich am Boden zerstört. Eine Mannschaft, die Weltmeister werden will, darf nicht so spielen und verlieren. Dabei hatten wir doch eine sehr gute Vorrunde gespielt.» Das ist das Salz in die Wunde: Die Niederlage kommt nach den guten Gruppenspielen unerwartet. Für alle. Fürs Publikum, für die Spieler und ganz besonders für den Nationaltrainer.
Er sucht nicht nach Ausreden und hadert jetzt noch mit sich: «Ich konnte die Jungs am Schluss nicht richtig packen. Warum habe ich nicht die richtigen Worte gefunden? Warum habe ich sie nicht aus der Komfortzone herausgeholt?» Vielleicht hätte ja toben geholfen. So nach dem Motto: Hey, Jungs, was ist los, wacht auf!
Aber diese vereinfachte, im Hockey noch immer recht weit verbreitete «schwarz-weiss-Psychologie» ist nicht seine Art und kommt bei der neuen Spielergeneration sowieso nicht gut an. «Das hätte nichts gebracht. Wenn die Spieler unsicher werden, dann musst du sie aufbauen und aufmuntern und ihnen gut zureden: Hey Jungs wir können das, wir sind besser.»
Oder könnte es sein, dass er die sanfte Tour wählt, weil böse zu sein nicht seine Art ist? Würden ihn die Spieler denn ernst nehmen, wenn er ausrasten würde? Kann Patrick Fischer überhaupt böse und laut sein? «Oh ja. Ich habe schon einige Male im Training einen Stock zerschlagen, weil etwas nicht so lief wie ich es gerne gehabt hätte und ich bin in der Kabine auch schon sehr laut geworden. Aber die Reaktion darauf war nie positiv. Wir trainierten oder spielten dann nicht besser. Darum denke ich, dass die aufbauende Art die bessere Lösung ist.»
Patrick Fischer ist in Gedanken diese letzte, verhängnisvolle Phase des Deutschland-Spiels immer wieder durchgegangen. Ganz offensichtlich hat er diese Partie längst in alle Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut. Drittel für Drittel. Minute für Minute. Sekunde für Sekunde.
Er hat alle seine Entscheidungen noch einmal infrage gestellt. Er ist von den Ereignissen nicht überrollt worden. Es war keine Überforderung im Pulverdampf einer hektischen Schlussphase. Er hat auf die hockeytechnischen Fragen eine Antwort. Warum er kein Time-Out genommen, warum er welche Spieler auf dem Eis belassen oder aufs Eis geschickt hat.
Aber er findet keine Antwort auf die Mutter aller Fragen: Warum ist es doch so gekommen? Und es gibt auch Fragen, die sich hinterher vortrefflich für Polemik eignen, aber in der Sache nicht weiterhelfen: Hatte NHL-Titan Timo Meier zu viel Einfluss? Sind zu viele Umstellungen der Linien für ihn gemacht worden? Hinterher ist diese Frage billig: Hätte Patrick Fischer keine Umstellungen gemacht, so würde es jetzt heissen, er hätte eben das Spiel viel mehr um den Stürmer zentrieren sollen, der sich in der NHL durchgesetzt hat. Denn: Wer sich in der NHL behauptet, müsste doch auch mit den Deutschen fertig werden.
Eigentlich gäbe es eine tröstliche Antwort, die alle Dämonen des Zweifels verscheucht: Eishockey ist, wir wissen es doch, ein unberechenbares Spektakel auf einer rutschigen Unterlage. Die Zufälligkeiten, die wir Glück und Pech nennen, gehören noch viel mehr zur DNA dieses Spiels als beispielsweise im Fussball. Gibt es denn nicht unzählige Beispiele für unentschuldbare Niederlagen in der Schlussphase? Hat denn nicht Titelverteidiger Finnland in Riga mit Weltmeister-Coach Jukka Jalonen den Final gegen Kanada in der Schlussphase auf eine ganz ähnliche Art und Weise nach einer 2:1-Führung noch aus der Hand gegeben, das 2:2 kassiert und dann in der Verlängerung verloren? Und Russland hätte doch den Viertelfinal gegen die Kanadier nie in der Verlängerung verlieren dürfen!
Patrick Fischer ahnt, dass es wohl so ist. Aber die Dämonen des Zweifels wollen nicht weichen. Er hat seine Spieler in diesen entscheidenden Minuten des Spiels gegen Deutschland nicht erreicht. Er spricht von der Barriere Viertelfinal. Für die grossen Hockey-Nationen ist der Viertelfinal nichts Besonderes mehr. Sie standen schon so oft vor dieser ersten Hürde. Manchmal scheitern sie. Manchmal nicht. «Aber wir haben diese Erfahrung noch nicht», sagt Patrick Fischer.
Und tatsächlich: Die Schweizer haben beim aktuellen WM-Modus erst zweimal den Viertelfinal gewonnen: 2013 in Stockholm mit Sean Simpson gegen Tschechien und 2018 in Dänemark mit Patrick Fischer gegen Finnland. Selbst der grosse Ralph Krueger hat nie einen WM-Viertelfinal gewonnen.
Patrick Fischer sagt, alles beginne und ende im Kopf. «Wenn du im Kopf nicht bereit bist, zu gewinnen, alles zu geben, macht es der Körper auch nicht. Wir hatten in Riga alle Voraussetzungen. Aber im Kopf waren wir noch nicht bereit. Doch früher oder später werden wir bereit sein und dann können wir Weltmeister werden.»
Noch hat also der Nationaltrainer keine befriedigenden Antworten auf seine Frage nach dem «Warum» der Niederlage gegen Deutschland gefunden. Aber den Glauben, dass ihm der grosse Wurf, der WM-Titel gelingen wird, hat er nicht verloren. Die nächsten Anläufe zu grossen Taten auf der globalen Bühne: Ab dem 4. Februar 2022 beim olympischen Turnier in Peking und ab dem 13. Mai 2022 bei der WM in Helsinki.
Erstmals muss Patrick Fischer mit zwei Nationalteams planen. Anders als 2018 werden die NHL-Profis beim olympischen Turnier dabei sein. IIHF-Präsident René Fasel hat die NHL-Teilnahme bestätigt. Nur die Pandemie kann das olympische Spektakel mit den NHL-Stars noch verhindern: Sollten bei der Rückkehr aus China nach Nordamerika nach dem Olympia-Turnier Quarantäne-Aufenthalte notwendig sein, dann verzichtet die NHL. Weil dann eine Verlängerung der Olympia-Pause erforderlich wäre.
Beim olympischen Turnier kann der Nationaltrainer also die in Nordamerika engagierten Spieler aufbieten. Für die WM wird er hingegen vermehrt auf die Spieler aus der National League angewiesen sein und es wird Spieler geben, die nicht beide Turniere bestreiten wollen oder können. So gesehen haben die Talente, die jetzt nach Zug ins OYM aufgeboten worden sind, grössere Chancen auf eine WM-Teilnahme als in «normalen» Jahren.