Spielplangeneral Willi Vögtlin ist gestern kurz vor Mitternacht noch wach und nimmt das Telefon ab. Er seufzt: «Ich bin wirklich am Anschlag.» Seit dem 20. Oktober musste er in den beiden höchsten Ligen bereits 22 Partien verschieben. Weil Teams in die Quarantäne geschickt worden sind. Allein seit dem 27. Oktober acht in der National League. Eine solche Beeinträchtigung des Spielbetriebes hat es nicht einmal in stürmischen Wintermonaten vor dem Hallen-Obligatorium (seit 1975) gegeben.
Willi Vögtlin sagt, technisch seien die Verschiebungen machbar. Das ist die andere Seite dieser Ausnahmesituation: weil alle Anlässe abgesagt werden müssen, stehen die Stadien inzwischen praktisch jeden Tag für Hockeyspiele zur Verfügung. Verschiebedaten gibt es theoretisch bis im Frühjahr genug. Zumal bereits nächste Woche während der Nationalmannschaftspause ohne Nationalmannschaft Nachtragspartien angesetzt werden können. Auch die Nationalmannschaftspause ohne Nationalmannschaft im Dezember und die Altjahrswoche ohne Spengler Cup sind für Meisterschaftsspiele frei.
Bisher richteten wir alles Sinnen und Trachten nach dem Grundsatz: Spielen, bis die Welt untergeht. Geisterspiele als Lösung, die funktionieren kann. Unbedingt die Meisterschaft fortsetzen. Dass die Welt untergehen könnte, haben wir aber nie bedacht. Dass sich selbst der Kalender für Geisterspiele nach und nach auflösen könnte, nie für möglich gehalten.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten über die finanziellen Folgen der Einschränkungen debattiert.
Vortrefflich lässt sich zudem über Sinn und Unsinn von Geisterspielen philosophieren. Und wir können einen alten Witz aufwärmen: Wenn einer im Herbst 2020 allein nicht schläft, dann ist es ein Philosoph, der nachdenkt. Wenn zwei nicht schlafen, sind es Liebende. Wenn vierzehn nicht schlafen, sind es die Klubmanager der National League, Liga-Direktor Denis Vaucher und Ueli Schwarz von «MySports».
Nur eines haben wir noch nicht gefragt: macht so alles noch Sinn? Und das Undenkbare haben wir noch nicht gedacht: Aufhören!
Als alles noch Sinn machte, waren Spielverschiebungen selten wie Wolfssichtungen am Platzspitz. Und wenn es doch welche gab, dann liess sich daraus ohne jede Boshaftigkeit eine Polemik oder gar eine vom SCB gesteuerte Spielplan-Verschwörungstheorie drechseln. Im fein getakteten Getriebe des Meisterschaftsbetriebes wurde einst schon eine einzige Verschiebung als womöglich meisterschaftsentscheidender Störfaktor empfunden. Und nun haben wir in zehn Tagen im Oktober mehr Verschiebungen als in den letzten zehn Jahren zusammengezählt.
Wir haben noch nicht einmal ein Viertel der Qualifikation gespielt und eine Tabelle mit Mannschaften, die schon zehnmal gespielt haben (ZSC Lions) und solchen, die erst viermal antreten durften (Davos). Wenn das so weiter geht, dann hat beim geplanten Qualifikationsende am 7. März noch niemand 52 Partien absolviert, einige werden bei 45 oder 46 sein und andere bei 25 oder 30.
Aber erst eine ganz banale Feststellung eines Klubmanagers, dessen Name mir wieder entfallen ist, hat bei mir so etwas wie eine Sinnkrise ausgelöst: «Es gibt keine Gründe mehr für eine Polemik …» So ist es. Die Lust zu loben, zu schmähen, zu polemisieren, zu spekulieren, zu fabulieren, zu kritisieren, zu spotten, zu glorifizieren, zu dramatisieren – wo ist sie geblieben? Alles ist relativ geworden. Heisst: nur noch in bestimmten Grenzen, unter bestimmten Gesichtspunkten, von einem bestimmten Standpunkt aus zutreffend und daher in seiner Gültigkeit, in seinem Wert stark eingeschränkt.
Weniger wissenschaftlich: spielt es überhaupt eine Rolle, wenn Biel sieben Mal hintereinander verlieren, der SCB auf den letzten Platz abrutschen, die ZSC Lions die Playoffs verpassen oder Ambri die Qualifikation gewinnen sollte? Nein. Es geht jetzt für alle nur noch darum, überhaupt durch den Winter zu kommen. Ein Titel nach dieser Saison wird ein Muster ohne Wert sein.
Die Eishockey-Meisterschaft ist ein Teil der Unterhaltungsindustrie. Wie eine «Lindenstrasse on Ice» produziert sie fast täglich Triumphe und Niederlagen, Dramen und Komödien, Emotionen und Enttäuschungen. Aber wenn die Resultate keine Rolle mehr spielen, wenn es keine Triumphe und Niederlagen, keine Dramen und Komödien, keine Emotionen und Enttäuschungen mehr gibt – macht dann der Spielbetrieb noch Sinn? Das Jammern über behördliche Einschränkungen und Finanznöte, die Forderungen nach Staatshilfe und die Entwürfe von Untergangs-Szenarien sind ermüdend. Nicht unterhaltend.
Deshalb die Frage: macht eine Meisterschaft ohne Sinn noch Sinn? Wenn nicht, sollten dann alle, die Generäle der TV-Stationen, die Sponsorenvertreter, die Präsidenten, die Manager, die Spieler, die Agenten, die Behördenvertreter, die Stadienbesitzer an einen Tisch sitzen und ein Szenario entwerfen, wie das Eishockey angehalten, in eine Art Winterschlaf versetzt und, wenn dieser Albtraum vorbei ist, wieder belebt werden kann? Aber heisst es nicht «the Show must go on!»?
Zum ersten Mal seit es Profisport gibt, müssen wir diesen Allerweltspruch abändern: «The Show can’t go on!».
Und der Chronist löscht als Letzter das Licht und geht nach Hause. Einer Existenz entgegen, wie sie der weltberühmte Maler Carl Spitzweg in einem grandiosen Gemälde («der arme Poet») festgehalten hat. Doch lieber nicht aufhören?
Sich aber gefühlt jeden zweiten Tag darüber auszulassen, warum, weshalb und wieso die Entscheide schlecht sind, ist auch nicht sehr konstruktiv. Der Entscheid wurde gefällt, warum ziehen "wir" das jetzt nicht einfach mal durch, bis wir sehen, in welche Richtung sich Corona weiterentwickelt?