Beginnen wir unsere letzte Geschichte über die Valascia mit ein wenig Pathos. Gustave Flaubert ist ein französischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert. Er hat einmal geschrieben: «Es gibt Orte auf der Welt, die so schön sind, dass man sie an sein Herz pressen möchte.» Wäre er ein Hockey-Chronist gewesen, dann hätte er mit diesem Satz die Valascia gemeint.
Soweit die Romantik. Aber Polemik gehört auch dazu. Es gibt ein Buch über Ambri, zusammengestellt von Ruedi Ingold. Darin gibt es eine Textstelle, die so viel über Ambri, über die Valascia und das ambivalente Verhältnis zum Kantonsrivalen sagt:
So ist das mit Ambris Hockey-Tempel. Wir sind gegen Lugano, also sind wir. Wir haben die Valascia, also sind wird. Ein Ort für Romantiker und für Polemiker. Und um die Seele dieses Ortes zu verstehen, ist dieser Hinweis auf die Zivilschutzanlage nützlich.
Nun erleben wir die letzte Saison in der Valascia. Im Sommer 2021 wird der HC Ambri-Piotta nach 62 Jahren die 1959 eröffnete Kunsteisbahn Valascia verlassen. Weiterziehen, quer durchs Dorf, hinüber ins neue, von Stararchitekt Mario Botta konzipierte, fast 50 Millionen Franken teure Stadion auf dem Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes.
Verliert Ambri ohne die Valascia die Identität? Wird es am Ende mit der neuen Arena gar wie Lugano? Nein. Es gilt, was der englische Staatsmann Thomas Morus schon vor fast 500 Jahren gesagt hat: «Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.» So ist es. Die Flamme wird weitergegeben. Hinüber in den neuen Hockey-Tempel.
Einmal noch wollte ich die Valascia sehen und erleben. Für einmal nicht vor oder während oder nach einem Spiel. Für einmal nicht auf der einzigen Tribüne der Hockeywelt, die bebt, wenn Wellen der Begeisterung durch die Arena brausen. Für einmal nicht in einer bitterkalten Winternacht, die diesen Hockey-Kraftort zum kältesten westlich des Urals und südlich des Polarkreises macht. Nicht in dem magischen Moment, in dem die Siegeshymne «La Montanara» erklingt. Sondern ein einziges, ein letztes Mal in der Ruhe und Stille eines späten Sommertages.
Abschied von der Valascia. In Begleitung von Pius Koller. Offiziell Fotograf. Aber eigentlich mehr Künstler, Hockey-Romantiker und im Herzen einer von Ambri. Und wer hätte für uns ein besserer «Reiseführer» sein können als Paolo Duca. Ein Sohn der Leventina, der Ambri einst als Spieler und Captain prägte und nun als Sportdirektor durch schwierige Zeiten navigiert.
Und siehe da: Still und leer übt die Valascia eine noch grössere, seltsame, beinahe unheimliche Faszination aus. Müsste Dan Brown ein Hockey-Stadion in seinen düster-magischen Geschichten einbauen – er würde die verlassene Valascia eines Spätsommertages beschreiben. Sie wirkt wie eine Mischung aus einem geheimen Rückzugsort der Tempelritter und einem Atombunker für den Bundesrat.
Fremder, tritts du ein in den Bauch der Valascia, dort, wo die Spieler das Eis betreten und verlassen, dann siehst du auf der linken Seite erst einmal den langen Gang, der direkt zum Heiligtum, zur Kabine Ambris führt. Gäbe es in der Hockeykultur eine Bundeslade – in der Kabine dieses Hockey-Tempels würde sie stehen. Ich habe unzählige Stadien gesehen, auch in Nordamerika und in Russland. Aber so etwas wie diesen Gang mit dem sterilen Charme eines Bunkers, bemalt mit den blauen Klubfarben gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.
Hier bin ich nach einem Spiel schon oft gestanden. Aber weiter bin ich noch nie gekommen. Und nun führt uns Paolo Duca durch ein unterirdisches Reich, wie es sonst keines im Eishockey gibt. Logisch, hier befinden wir uns ja auch in einer gigantischen Zivilschutzanlage. Mit mächtigen, dicken Mauern, die auch den Lawinen widerstehen, die von den steilen Bergflanken herabdonnern können. Die Valascia ist tatsächlich in lawinengefährdetem Gebiet erbaut worden und das ist auch ein Grund, warum sie geschlossen und dann vollständig abgebaut wird.
Weitverzweigt ist dieses Schattenreich und manchmal sucht Duca einen Lichtschalter. Auch die Suche nach dem Licht passt zu Ambri und hilft uns, die Seele des Klubs zu verstehen. Historiker vermuten, dass die Ortsbezeichnung Ambri vom Wort «Ombra» kommt: Schatten. Das Dorf und die Valascia liegen am rechten Rand des Tals. Auf der Schattenseite.
Im November verschwindet die Sonne hinter den hohen Bergen, hinter dem 2760 Meter hohen Piz Massari, einem Gipfel der Lepontinischen Alpen. Sie geht erst im Februar wieder auf. Mehr als drei Monate lang kein Sonnenstrahl. Diese Melancholie aus der scheinbar ewigen Nacht vom November bis Februar erklärt uns ein wenig die Melancholie, die mitschwingt, bei einem Klub, der noch nie Meister geworden ist. Und vielleicht nie Meister werden wird.
Wie ein Fuchsbau aus Beton ist dieser Bauch der Valascia. Ohne kundige Führung würde sich der Unkundige in dieser Unterwelt verirren. Gewaltige Betontüren werden geöffnet. Wieder befinden wir uns in einem langen Gang. An den Wänden Bilder aus der ruhmreichen Vergangenheit fast (aber schon nicht ganz) wie Michelangelos Fresken in der sixtinischen Kapelle. Links und rechts lassen sich Türen öffnen.
Es gibt in dieser unterirdischen Welt zusätzliche Kabinen für die Junioren. Ein Trainerbüro. Verwinkelte Krafträume für die Spieler. Einen Aufenthaltsraum für die Frauen und Freundinnen der Spieler und für die Kinder. Räumlichkeiten zum Verstauen von Material. Aber nicht alles auf einer Ebene. Wir steigen Treppen hinauf und Treppen hinab. Wie viele Kammern sind es? Ich habe sie nicht gezählt. Aber 20 sind es mindestens.
An einer Wand lese ich einen Leitspruch und wer ihn gelesen hat weiss, warum sich Ambri seit dem Wiederaufstieg von 1985 im Hockeygeschäft zu behaupten vermag wie das gallische Dorf von Asterix und Obelix im römischen Weltreich. Auch ohne den Zaubertrank von Miraculix:
In der Valascia könnte sich nebst der Bevölkerung des Dorfes auch eine ganze Kompanie unserer Gebirgstruppen einrichten. Inklusive Arrestlokal. Hätte es die Valascia in den 1930er- und 1940er-Jahren in dieser Form schon gegeben, dann wäre sie ein Eckpunkt des «Réduit», der weltberühmten Alpenfestung von General Henri Guisan geworden.
Das ist die Valascia eben auch: ein «Réduit», eine Trutzburg, ein sicherer Rückzugsort. In Beton gegossene Geschichte. In Beton gegossene Leidenschaft. In Beton gegossener Ruhm. Aber auch in Beton gegossene Weltoffenheit und Versöhnung. Wenn der Gotthard als steinerne Seele der Schweiz bezeichnet wird, dann ist die Valascia mit der dazugehörenden Zivilschutzanlage die steinerne Seele Ambris, ja, unseres Hockeys.
Diese Anlage, während des «Kalten Krieges» gebaut, um uns vor einem Feind aus dem Osten, vor den Russen zu schützen, haben die Russen schliesslich tatsächlich erobert. Igor Tschibirew, Pjotr Malkow, Waleri Kamenski, Dimitri Kwartalnow, Juri Leonow, Igor Fedulow und Oleg Petrow haben uns mit ihrer Kunst die Hockeyseele in so manchen bitterkalten Winternächten gewärmt. Und nie ist Ambri höher gestiegen als mit Oleg Petrow – bis hinauf auf den Gipfel des Qualifikationssieges. Bis hinauf in den Final. Und den hat Ambri im Frühjahr 1999 verloren. Gegen Lugano.
Danke Eismeister.