Trainer bereiten Hockeyspiele sorgfältig vor. An alles denken sie. Akribisch wird die Taktik auf die Stärken und Schwächen der gegnerischen Mannschaft abgestimmt. Und die Spieler werden auf die kommende Partie eingefuchst. Im Idealfall läuft das Spiel nach dem sog. «Game Plan» und der Trainer ist dann ein grosser Bandengeneral. Im Falle einer Niederlage wird die Ausrede vorgebracht, man habe sich nicht an den «Game Plan» gehalten.
Aber es kann auch sein, dass die ganzen stundenlangen Vorbereitungen nichts anderes sind als der Versuch, ein Kartenhaus aus Bierdeckeln oder Jasskarten zu bauen. Eine einzige kleine Erschütterung genügt und eine noch so sorgfältige Aufbauarbeit ist in Sekundenbruchteilen für die Katz. Soeben ist es den beiden grossen Taktikern Christian Wohlwend - in Davos noch ein Zauberlehrling - und Heinz Ehlers - in Langnau ein alter Hexenmeister - so ergangen.
Nicht nur Berns Kari Jalonen kann Schablone. Auch Heinz Ehlers versteht es, das Spiel seiner Mannschaft zu strukturieren. In den vorangegangenen fünf Partien gegen die Lakers, Bern, Biel, Servette und die ZSC Lions hatten die Langnauer – die Verlängerungen nicht gerechnet – nur noch sieben Tore kassiert. Defensive Werte, die selbst im italienischen Fussball hohe Anerkennung fänden.
Auch gegen Davos funktioniert die Abwehr. Ivars Punnenovs ist einfach nicht zu überwinden. Und dann fällt die ganze defensive Herrlichkeit doch wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Eero Elound Julian Schmutz werden gemeinsam auf die Strafbank geschickt. HCD-Trainer Christian Wohlwend nimmt sein Time-Out um das Powerplay (5 gegen 3) zu justieren und tatsächlich gelingt das 1:0.
Wenn der HCD ein Spiel nicht fahren lässt wie jüngst beim Spengler Cup (1:5 gegen Kanada) sondern unbedingt gewinnen will, wird es für den Gegner also schwierig. Den Bündner gelingt in Langnau ein nahezu perfektes Spiel. Sie sind nachdem 1:0 schon auf der Zielgerade zu einem Drei-Punkte-Sieg. Verteidigung und Sturm greifen ineinander wie das Räderwerk einer Präzisionsmaschine und Enzo Corvi sorgt im offensiven Maschinenraum für das Finetuning. Er wird beide Treffer einfädeln. Ein grosser HCD. Der Gegner findet einfach keine freien Räume. Die Davoser besetzen das ganze Eis so wie wenn beim Mühlespiel der Gegner blockiert wird, seine Steine nicht mehr verschieben kann und das Handtuch werfen muss. In der 46. Minute gelingt Aaron Palushaj das 1:0. Der Sieg? So scheint es. Denn in der 51. Minute bekommt Davos mit einem Powerplay die Chance, auf 2:0 zu erhöhen. Das wäre die Entscheidung. Definitiv.
Doch nun gelingt Ben Maxwell (30) der «Apfelschuss». Er angelt sich im Boxplay die Scheibe, läuft mutterseelenallein tief in die gegnerische Verteidigungszone bis er weit draussen auf der Höhe der verlängerten Torlinie angekommen ist. Von hier aus ist es ganz einfach unmöglich, ins Tor zu treffen. Wahrscheinlich war es für Wilhelm Tell um einiges einfacher, seinem Walterli den Apfel vom Kopf zu schiessen als für den Kanadier, aus dieser Position ein Tor zu erzielen. Aber er trifft. Zum 1:1. In Unterzahl. Die ganze Herrlichkeit der HCD-Spielorganisation ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Langnau wird schliesslich einen Punkt retten und erst in der Verlängerung verlieren.
HCD-Torhüter Joren van Pottelberghe ist Depp und Held zu gleich. Er sagt, er habe eigentlich zugemacht. «Aber irgendwie doch nicht ganz und der Puck ist reingegangen.» Aber er steckt das Missgeschick weg. So wie es mental starke, grosse Goalies tun. Am Ende hat Biels künftiger Goalie 31 Schüsse abgewehrt (96,88 Prozent Fangquote).
Ben Maxwell ist also Langnaus Tell, dem der Apfel-Schuss gelungen ist. Er sagt, es sei nicht einfach ein Befreiungsschlag gewesen. Er habe tatsächlich versucht, aus diesem unmöglichen Winkel ins Tor zu treffen. «Manchmal funktionierts, manchmal nicht.» Trainieren könne man so einen Schuss nicht. Wo er recht hat, da hat er recht: Wilhelm Tell hat seinen Apfelschuss wohl auch nicht mit dem Walterli trainiert.
Dieses 1:1 ist bereits Ben Maxwells 12. Saisontreffer. Im vergangenen Sommer ist er als 5. Ausländer mit einem Einjahresvertrag verpflichtet worden. Inzwischen ist er Langnaus bester Torschütze. Mit 23:16 Minuten pro Partie schultert er von allen am meisten Eiszeit. In der ganzen Liga wird kein anderer Stürmer so belastet. Nur zwei Verteidiger (Henrik Tömmernes und Magnus Nygren) haben noch längere Einsatzzeiten. Zudem ist Ben Maxwell ligaweit die Nummer 9 bei den Bullys. In einem Satz: er ist Langnaus heimlicher, wahrer MVP. Er rettete den Punkt. Chris DiDomenico (erstmals seit der Verkündung der Scheidung von Langnau im Einsatz) und Rückkehrer Eero Elo müssen mit statistischen Brillen (0 Tore/0 Assists) vom Eis.
Kein Wunder ist Trainer Heinz Ehlers nach dem Spiel verärgert, dass ihn alle nur nach dem «Fall DiDomenico» befragen wollen. Das Fernsehen und das schreibende Medien-Fussvolk. Bekanntlich verlässt der charismatische Leitwolf per Ende Saison die Emmentaler. «Todd Elik war hier auch ein Held und es ist doch weitergegangen» ist Heinz Ehlers Kommentar zur Sache, um dann fortzufahren: «Aber warum spricht niemand von Ben Maxwell. Er war unser bester Spieler.»
Diese Frage sollte er besser an seinen Sportchef Marco Bayer richten. Ben Maxwell möchte nämlich in Langnau bleiben und seinen Vertrag prolongieren. Daran lassen seine Worte kein Zweifel. Langnau ist sein 5. Team in den letzten sechs Jahren, die er in den garstigen Wintern Finnlands und Russlands verbracht hat. Er sagt, er wäre froh, wenn er einmal an einem Ort etwas länger bleiben könnte. Das Leben in Langnau gefalle ihm und seiner Familie sehr. Kein Wunder: Langnau hat statistisch nach Davos auf der Alpennordseite am meisten Sonnentage. Folgerichtig wird er gefragt, ob denn Sportchef Marco Bayer schon mit ihm gesprochen habe. «Nein, noch nicht.» Aha.
Marco Bayer hat bereits die Vertragsverlängerung mit Chris DiDomenico verabsäumt und nun nimmt er in Kauf, dass sich die Konkurrenz um einen seiner besten und wichtigsten Spieler, um seinen Ausländer mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis bemüht und den Preis nach oben treibt. Es ist ja nicht so, dass in Langnau mit Gesprächen grundsätzlich zugewartet wird, bis die Saison vorbei ist. Den Fehleinkauf Robbie Earl (25 Spiele, 5 Tore) hat Langnaus Sportchef schon im Dezember 2018 unter Dach und Fach gebracht, als der Amerikaner ja noch bei Biel spielte.
In diesem Falle hätte er besser ein wenig zugewartet und die Sache noch einmal überschlafen.