Die Frage, die uns immer wieder umtreibt? Könnten Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen auch die National League aufmischen? Bis heute haben alle Sportchefs diese Frage mit «Nein» beantwortet. Auch nach dem Triumphzug der beiden Kanadier zum grandiosen Cupsieg 2020 mit Siegen gegen Lausanne, die ZSC Lions, Biel und Davos.
Wenn ich eine Einschätzung von Spielern brauche, dann frage ich oft einen langjährigen Beobachter der Szene mit nordamerikanischen Wurzeln. Er verblüfft mich immer wieder mit richtigen Bewertungen.
Auf meine Frage nach der NL-Tauglichkeit der beiden Ajoie-Kultstürmer sagt er: «Es gibt eine alte Regel: Wenn ein Spieler aus einer Liga unter dir während einer ganzen Saison zwei Punkte pro Spiel macht, dann ist er auch in deiner Liga ein Schlüsselspieler. Ja, Devos und Hazen könnten in der NL spielen. Aber dann sollten gleich beide verpflichtet werden.»
Wer sind denn eigentlich Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen? Noch bevor die Pandemie über unser Hockey gekommen ist, habe ich die beiden in Pruntrut besucht. Eine Reportage einer Begegnung mit zwei Kanadiern, die ihr Glück im Jura gefunden haben und wahrscheinlich auch die National League aufmischen könnten.
Zwei jungen Männer checken im Spätsommer 2015 im Flughafen Montréal-Dorval für eine Reise nach Zürich-Kloten ein. Sie dürften niemandem aufgefallen sein. Zwei Studenten wohl, die zu einem Trip nach Europa aufbrechen. Abenteuer. Rock’n’Roll. Vielleicht wunderte sich ein stiller Beobachter mit musischem Flair darüber, dass keiner der beiden Jungs eine Gitarre dabei hatte.
Es sind nicht zwei Studenten. Virtuos gehen sie nicht mit Musikinstrumenten um. Sondern mit Stöcken, mit denen sie gelegentlich beim rauen Spiel sogar ihre Gegner schlagen und dafür bestraft werden.
Jonathan Hazen erzählt, beim Einchecken in Montréal habe er seinen künftigen Sturmpartner zum ersten Mal ausserhalb eines Hockey-Tempels getroffen. «Wir kannten uns schon. Wir hatten ja schon im Juniorenhockey hin und wieder gegeneinander gespielt. Aber persönliche Kontakte hatten wir darüber hinaus noch keine gehabt.»
Sie haben nicht einmal den gleichen Agenten. Und nun also die gemeinsame Reise nach Europa. In eine Stadt (Pruntrut), von der sie noch nie etwas gehört haben und zu einem Klub, dessen Name (HC Ajoie) ihnen nichts sagt.
Beide suchen ihr Glück allerdings aus gleichem Grund ausgerechnet im Jura. Beide wollen sie noch ein wenig Geld mit Hockey verdienen. Philip-Michaël Devos, weil er schliesslich von irgendetwas leben muss. Jonathan Hazen, weil er noch nicht im Baugeschäft arbeiten mag, das sein Bruder vom Vater übernommen hat.
Beide sind talentiert. Devos wird 2011 sogar QMJHL-Topskorer (wie zuvor u.a. Sindey Crosby). Aber fürs «Big Business» werden beide als nicht gut genug taxiert. Es reicht nicht für die grosse Karriere in der NHL.
Sie haben schliesslich unabhängig voneinander genug davon, für eine Handvoll Dollar durch Busch- und Farmteam-Ligen zu tingeln. Beide hatten gerade eine erste Europa-Saison hinter sich. In Italien. Jonathan Hazen sagt: «Aber dort kann ein Profi höchstens 40'000 Euro verdienen. Zu wenig, um meine Familie zu ernähren.»
So kommt die Offerte aus der zweiten Liga in der Schweiz gerade recht. Wie sie beim HC Ajoie entlöhnt werden, wird natürlich nicht verraten. Philip-Michaël Devos erzählt immerhin: «Reich werden wir hier nicht und es kann keine Rede davon sein, dass wir genug Geld verdienen, um nach unserer Karriere ausgesorgt zu haben. Aber es reicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten …»
Dass dieses Abenteuer, das mit dem Einchecken im Flughafen Montréal begonnen hat, Jahre dauern wird, ahnen beide nicht. Können sie sich nicht vorstellen. Weil sie ja noch keine Ahnung davon haben, was sie in der Schweiz erwartet.
Inzwischen wissen wir: Es ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Für die beiden Kanadier und für den Klub. Sie werden sofort ein Duo. Ihre Dominanz und Konstanz hat es vorher nie gegeben. Sie führen ihre Mannschaft zu den grössten Erfolgen der Geschichte: Meister 2016 und vor allem zum Cup-Sieg 2020.
Auf dem Eis wirken Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen wie eineiige Zwillinge. Blind das Spielverständnis. Wie einst bei Wayne Gretzky und Jari Kurri. Als ich diesen Vergleich mache, fragt Devos: «Und wer von uns beiden ist Gretzky?» - «Sie natürlich.» - «Oh, grossartig, ich glaube, ich mag Sie.»
Es ist so: Devos hat die Spielintelligenz, das Gespür für die Spielentwicklung eines Jahrhunderttalents. Er blitzt mit seinem Genie aufs Eis, was Hazen im Netz versenkt. Der eher sanfte Spielmacher und sein bissiger, schneller, flinker Vollstrecker. Seit dem Duo Slawa Bykow und Andrej Chomutow hat es in helvetischen Hockey-Tempeln kein solches Duo gegeben.
Die Frage geht an beide: Tüftelt ihr eigentlich die Spielzüge in stundenlangen Spezial-Trainings aus? Stellt ihr womöglich gar Situationen mit Streichhölzern auf einem Tisch nach? «Nein, überhaupt nicht» sagt Devos. «Es gibt nichts mehr auszutüfteln. Jede möglich Variante haben wir gespielt. Es gibt keinen neuen Spielzug mehr zu erfinden.»
Aber muss es im Zeitalter, in dem jede Minute mit mehreren Kameras erfasst und vom Gegner analysiert wird, nicht eine ständige Weiterentwicklung geben? Kommt nicht der Zeitpunkt, da alle gegnerischen Coaches wissen, wie Ajoies Tormaschine zum Stillstand gebracht werden kann?
Devos weiss, warum das nicht so ist: «Es geht nicht um das Einüben von Automatismen. Sondern darum, in einer Situation instinktiv die richtige Entscheidung zu treffen.» Und Hazen ergänzt: «Wir halten unser Spiel so einfach wie möglich.»
In der Einfachheit liegt also das Erfolgsrezept der besten Skorer unseres Hockeys. Ganz nach dem Kiss-Prinzip (Keep it simple, stupid). Mit Video-Analysen und Taktik ist den beiden also nicht beizukommen.
Spielerisch eineiige Zwillinge müssten eigentlich auch neben dem Eis sehr ähnlich sein. Was nicht der Fall ist. Das war übrigens auch bei Wayne Gretzyk und Jari Kurri oder bei Slawa Bykow und Andrej Chomutow so.
Der Unterschied zwischen Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen ist vom Temperament und der Persönlichkeit her eher noch grösser als zwischen dem kreuzbraven Gretzky und dem heimlichen Rock’n’Roller Kurri oder dem charismatischen, weltoffenen Bykow und dem melancholischen Schweiger Chomutow.
Philip-Michaël Devos spricht von einer Schicksalsgemeinschaft mit seinem Linienpartner: «Wir sind auf einander angewiesen, er braucht mich, ich brauche ihn und letztlich sind wir von der Mannschaft abhängig.» Logisch also, dass beide keine Skorer-Punkteprämien im Vertrag haben. Kein Zusatzgeld für persönliche Tore und Assist. Bonus nur für die Klassierungen des Teams. Eishockey ist das letzte wahre Mannschaftspiel.
Jonathan Hazen trägt keinen Bart. Er wirkt brav und unauffällig und hat eher das Charisma eines fleissigen Jura-Student. Oder, um beim Bild zu bleiben, des Chauffeurs eines Rockstars. Aber wenn er dann doch etwas sagt, blitzen Witz und Schalk.
Er ist einer, den man gerne unterschätzt. Er ist Familienvater, Devos nicht. Das erklärt wohl, warum er ein bisschen ernsthafter wirkt. Beide haben Sinn für Ironie und Humor und lachen viel und sind herrlich ungeschliffen: Sie reden nicht ständig in den Floskeln, die den Profis heute im Medientraining beigebracht werden und sie zu verbalen Tanzbären machen.
Auf die Frage, ob sie sich denn durch die Jahre in Ajoie privat nähergekommen seien und auch im Sommer viel Zeit miteinander verbringen, sagt Devos: «Nein. Ich habe Jonathan im letzten Sommer mindestens fünfmal eingeladen, aber er ist nie gekommen. Obwohl er mit dem Auto zu mir bloss zwei Stunden braucht. Dabei habe ich extra über den Sommer ein grosses Haus mit Umschwung gemietet, damit er mit seiner Familie ein paar Tage bei mir verbringen kann.» – «Ach was» ist die Antwort.
«Ich kam doch mehrmals bei Dir vorbei. Aber du warst ja nie zuzause. Weiss der Teufel, wo du dich wieder herumgetrieben hast. Extra ein Haus gemietet, damit wir Platz haben? Du wolltest doch bloss angeben …»
So gehen die beiden also neben dem Eis eigene Wege. Beim HC Ajoie verbindet sie mehr eine überaus erfolgreiche berufliche Zweckgemeinschaft als eine Freundschaft fürs Leben.
Sie sagen auch gleich offen, dass sie sofort getrennte Wege gehen würden, sollte eine Offerte aus der National League eintreffen. Beide könnten bis Ende April im Falle eines entsprechenden Angebotes aus dem noch eine Saison (bis 2021) laufenden Vertrag bei Ajoie aussteigen.
Die Frage ist natürlich, warum noch nie eine solche Offerte gekommen ist. Auch nicht nach dem grandiosen Cupfinal-Triumph über Davos.
Wir versuchen zu ergründen, warum das so ist. Meine Theorie: den Sportchefs fehlt der Mut, zwei Ausländer aus der zweiten Liga zu engagieren. Geht es schief, dann heisst es: Logo, die kommen ja bloss aus der Swiss League. Wenn einer hingegen eine NHL-Vergangenheit vorweisen kann und direkt aus Amerika oder Skandinavien kommt, so gilt die Ausrede: Aber er war ein Grosser in Schweden oder in der NHL.
Es geht schliesslich in diesem Geschäft darum, immer eine Ausrede zu haben. Devos sagt dazu: «Okay, das leuchtet mir ein. Aber es gibt Teams in der National League, die in den letzten zehn Jahren bloss ein oder zwei Mal die Playoffs erreicht haben. Was gibt es für die Sportchefs denn da zu verlieren?»
Ja, was haben beispielsweise die Sportchefs in Ambri oder Langnau zu verlieren?
Und so sind Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen bis heute bei Ajoie geblieben. Natürlich hat das Eishockey-Leben in der Provinz seinen ganz besonderen Reiz und beide wissen die Lebensqualität in unserem Land sehr zu schätzen.
Aber von der Romantik, König des Juras zu sein, halten sie wenig. Natürlich kennen beide den Spruch des grossen Cäsar, es sei besser, der erste im Dorf als der zweite in Rom zu sein. Und warum weitere vier oder fünf gute Jahre in Ajoie durch ein ungewisses Abenteuer in Genf, Langnau, Ambri oder sonstwo aufs Spiel setzen?
Doch Philip-Michaël Devos, ganz wahrer Kanadier, sagt: «Ich möchte nie missen, was wir hier mit Ajoie erlebt haben. Aber hey, ich würde meine Europa-Karriere gegen ein paar NHL-Spiele mit den Montréal Canadiens und einem Leben zwischen Farmteam und der NHL eintauschen.»
Wahrlich, die Reise in den Jura hat sich gelohnt. Wo finden wir denn sonst noch zwei so herrlich geerdete, unkomplizierte Hockey-Typen wie Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen?
Kürzlich habe ich einem NL-Sportchef von meiner Reise in den Jura erzählt und darauf hingewiesen, dass die beiden Ajoie-Kanadier eine Ausstiegsklausel für die National League bis Ende April haben. Er fragte ganz ungläubig: «Stimmt das?» Er werde telefonieren.
Ich habe mich noch nicht bei ihm erkundigt, ob er telefoniert hat. Wie gesagt: Es gehört zu den Rätseln unserer Zeit, warum die Sportchefs – gerade die, die ständig über hohe Löhne klagen und vom Sparen fabulieren und sich mit miserablen Ausländern blamieren – dieses Sonderangebot auf dem Transfer-Wühltisch verschmähen. Aber der April 2020 ist noch nicht vorüber.
Nein im Ernst. Wenn die beiden schon nur 1/3 ihrer Punkte in der NLA verbuchen sind es für Langnauer Verhältnisse gute Ausländer. Ich möchte ja nicht wissen was ein Earl verdient. Aber vermutlich könnte man sich mit seinem Lohn fast beide leisten.
Währe interessant zu sehen ob es klappt. Und sonst hätte man es zumindest probiert.
Brent Kelly und Jeff Campbell, kongeniales Duo, das jahrelang für Langenthal (und Olten) stürmte? Zusammen 923 Matches, 1209 Skorerpunkte und sechs (je drei in Langenthal) Meistertitel.
Klingelt da was?