Das hat Granit Xhaka so an sich. Er ist immer ein Thema um die Schweizer Nationalmannschaft, weil er ihr Captain und Kopf ist. Bedeutungsschwer macht, dass kein Land der Welt ohne einen funktionierenden Kopf gewinnen kann, im übertragenen Sinn wie im herkömmlichen.
Bereits im Final Four der Nations League im portugiesischen Sommer 2019 hat Xhaka die Schweiz angeführt, aber diesen Anlass als etwas richtig Grosses zu bezeichnen, ist falsch – und der angestammte Chef Stephan Lichtsteiner war damals nicht dabei. Erfahrener hat das Turnier Xhaka dann schon gemacht, und heute sagt er seinem Naturell entsprechend: «Wir wollen dieses Mal Geschichte schreiben.» Das heisst bei ihm, der stets gross und für den Schweizer in oftmals überhöhten Dimensionen denkt, dass es bis in den Final reichen kann. Reichen soll?
Xhaka ist Berufsfussballer durch und durch, doch die Familie geht immer vor. Also lässt er sich nach der ersten Vorbereitungsphase in Bad Ragaz den Namen seines zweiten Töchterchens in einem Tattoo-Studio stechen; sie will er auch an der EM bei sich haben. Indem er zeitweise die Maske abzieht und es fragwürdiger- und irritierenderweise ein Bild auf den sozialen Medien gibt, ist der öffentliche Aufschrei da – wieder einmal bei ihm. Passieren dürfte einer Führungsperson solches nicht. Aber eigentlich beweist diese Episode nur: Man überhöhe keinen Spieler und verlange von ihm Perfektion.
Es ist gerade Xhaka, der schon so viele Dinge erlebt hat, die perfekt sind. Aber auch unvollkommen. Angefangen 2009 mit dem U17-WM-Titel in Nigeria. Damals beansprucht er schon mehr Raum auf und neben dem Platz. Später, im Juni 2011 im Wembley gegen England beim Debüt in der A-Nationalmannschaft, ist die Bühne gross und Xhaka fällt als 19-Jähriger mit seiner Unerschrockenheit auf. 2014 hat er sein erstes WM-Spiel in Brasilien, er nennt es heute «eine Erfahrung, die fürs Leben bleibt». 2016 ist die EM in Frankreich, da kommt es zum Aufeinandertreffen mit Albanien und Bruder Taulant, es ist ein kompliziertes Spiel für beide, sie meistern es gut. Später scheiden die Schweizer im Achtelfinal gegen Polen aus, weil Xhaka vom Elfmeterpunkt scheitert.
2018 erfährt er an der WM in Russland um das Serbien-Spiel viel Ungemach. Die Schweizer gewinnen, Xhaka trifft und erkennt später Fehler beim Torjubel mit der Doppeladlergeste. «Das würde ich nicht mehr machen», sagt er bald. Heute findet der 94-fache Nationalspieler, dass man die Angelegenheit mit besserer Kommunikation schneller hätte beiseitelegen können. «Jetzt stehen wir hin, wenn etwas passiert, und erklären.»
Tranquillo Barnetta hat Xhaka in der A-Nationalmannschaft beginnen und wachsen sehen, ehe er selbst nicht mehr aufgeboten wurde. Der Ostschweizer sagt: «Xhaka war schon als Junger selbstbewusst, so spielte er auch. Man sah seine Qualitäten, dass er nun dort ist, wo er ist, kommt nicht von ungefähr.» Barnetta erkennt keine Zweifel an der Führungsperson Xhaka, trotzdem fehlt beim Schweizer Ausnahmespieler irgendwie die Vollendung seiner Verheissung. Hätte nicht vieles noch besser kommen sollen?
Um Xhakas Wesen ganz zu begreifen, auch das In-Sich-Gehen nach nagenden Niederlagen, muss man seine Herkunft verstehen. Die dreieinhalb Jahre dauernde Haft des Vaters als politischer Gefangener im ehemaligen Jugoslawien haben den Jungen geprägt, auch wie die Familie danach an einem Strang gezogen hat, um in der Schweiz Fuss zu fassen.
Xhaka zeigt sich noch immer tief berührt von der Geschichte seines Vaters. Der 28-Jährige verriet einmal dem «Guardian», dass er nicht sicher sei, trotz vielem Nachfragen alle Gefängnisdetails erfahren zu haben. Die Familiengeschichte spielt eine Rolle, dass Xhakas Leitprinzipien mit «Loyalität» und «Respekt» zu beschreiben sind. Und dass er sich bei einem Besuch in Camden wohlfühlt, diesem Schmelztiegel Londons mit unzähligen Märkten und pochendem Leben.
Doch nun gibt es ein neues Störfeuer, das den Mittelfeldstrategen ablenken könnte, an der EM zu liefern: Er steht vor dem Wechsel zur AS Roma von Trainer José Mourinho. Spieler und Verein sind sich offenbar einig, nötig ist nur noch das Einverständnis von Arsenal, für das er schon seit fünf Jahren spielt und in dem er so viele Aufs und Abs erlebt hat.
Einige Fachleute sähen den Wechsel als Abstieg, weil die Premier League die Liga an der Sonne ist. De facto ist Arsenal ein Mittelfeldklub und sein Glanz längst verblasst, während die Roma zu den besten fünf Klubs der Serie A gehört. Zudem täte eine Luftveränderung Xhakas Karriere gut: In der vergangenen Saison wurden in der Premier League gemäss dem Fussballmagazin «Zwölf» 67 Prozent der Spieler besser benotet.
Nun also ist Xhaka, der eher ein ballverteilender Achter denn ein destruktiver Sechser ist, an der EM besonders gefordert. Er muss noch mehr reden, noch mehr helfen - Remo Freuler beispielsweise ist mit ihm viel besser. Der Teamgedanke, der Charakter und wache Geist, die aufgeladenen Spiele, Xhaka vereint gewiss vieles. Aber klar ist: Jetzt muss Xhaka liefern.