Der französische Sportklub Avant Garde Caennaise geht neue Wege. Der Sechstligist aus Caen in der Normandie – 1902 gegründet – nimmt eine Vorreiterrolle bei der Verschmelzung der analogen mit der digitalen Welt ein. Der Klub fusioniert das echte Fussball-Leben mit einer Game-App.
«United Managers» heisst die App, ihre User sind deshalb die «Umans». Sie bestimmen die Spieler der Startaufstellung und die Taktik, sie legen fest, wer Ersatz sein und wer Standards treten soll – und sie kommunizieren während einer Partie mit dem Trainerstab.
Um eine Wahl zu treffen, müssen Coins erworben und eingesetzt werden. Je öfter ein Uman sich beteiligt, umso mehr Gewicht erhält seine Meinung.
Ihre Entscheidungen treffen die Umans natürlich nicht aus dem Bauch heraus. Gehen sie nicht ins Stadion, können sie sich das Spiel im Livestream anschauen. Sie erhalten auch Zugang zu Statistiken, wie man sie aus dem Profifussball kennt, aber sicher nicht auf dem Niveau der sechsthöchsten Liga.
Will der AGC-Trainer einen Spieler austauschen oder die Taktik ändern, so gibt er sein Vorhaben in der App bekannt. Die Umans können dann darüber abstimmen und via Assistent erhält der Coach ein «oui» oder ein «non» der Community.
Starre Regeln gibt es übrigens nicht; wenn die Zeit drängt, darf der Trainer auch selbständig entscheiden. Schliesslich ist es das gemeinsame Ziel von Klub, Trainer und Umans, möglichst gut zu sein. Es klappt: Avant Garde Caennaise überwintert auf Rang 1 der Liga, hat acht von elf Spielen gewonnen.
Julien Le Pen ist als Chefcoach von AGC der Ausführende dessen, was seine aktuell über 2000 Assistenten ihm ans Herz legen. «Früher traf ich meine Entscheidungen mit zwei Assistenztrainern, heute reden tausende mit. Das ist ein grosser Unterschied», sagte Le Pen zur BBC.
Le Pen ist in seiner siebten Saison beim Klub. «Ich habe meinen Stolz ein Stück weit beiseite stellen müssen», gab er zu. Aber er sei glücklich über die neuen Möglichkeiten, betonte Le Pen. Beim Job des Trainers gehe es ja nicht nur darum, das Team aufzustellen.
«Es geht auch darum, Tag für Tag mit den Spielern zu arbeiten. Das hat mir niemand weggenommen und deshalb denke ich, dass sich meine Arbeit nicht gross verändert hat.» Ausserdem seien die Entscheidungen der Umans «mehr oder weniger gleich» gewesen wie jene, die er ohne ihre Hilfe getroffen hätte. «Der Druck liegt immer noch auf meinen Schultern.»
Der 33-jährige Trainer sieht die Möglichkeiten, die er mit der App hat, als Chance. «Unsere Partien werden gefilmt wie solche bei den Profis. Und dass wir über so detaillierte Statistiken verfügen, gibt es auf diesem Level sonst auch nicht.»
Dass die Spiele gefilmt werden, ist nicht nur für den Trainer eine gute Sache. «Es ist auch etwas, das gute Spieler zu uns lockt.» Das bestätigt Mittelfeldspieler Nicolas Suzanne, der im vergangenen Sommer zu Avant Garde Caennaise stiess. Da auch die Trainings übertragen werden, würden Spieler sich tendenziell eher anstrengen als anderswo, gab Suzanne gegenüber der BBC zu. Schliesslich will jeder für die Startelf nominiert werden.
Während eines Spiels denke man nicht gross an die Umans. Das sei erst dann der Fall, wenn man ausgewechselt werde. «Wenn die Community findet, dass ich raus muss, dann akzeptiere ich das, weil es halt dazugehört», so Suzanne. «Natürlich hat keiner Freude daran, ausgewechselt zu werden. Aber wir kannten die Bedingungen alle, als wir uns für dieses Projekt entschieden haben.» Er habe sich bislang nicht gross über Entscheidungen der Umans aufgeregt, meinte der 29-Jährige.
«Ich habe den Klub vorher nicht gekannt. Nun schlägt mein Herz für ihn und zwar noch heftiger als für PSG», gerät Uman *ZenAGC* ins Schwärmen. Er lebt fast 200 Kilometer von Caen entfernt und war Anhänger von Paris Saint-Germain, der Nummer 1 Frankreichs.
Ein Game könne man immer wieder neu starten, «aber hier geht das nicht, das ist ein echtes Fussballteam», erklärt er den Reiz der Sache. *ZenAGC* sagt, dass er rund eine Stunde täglich für die Arbeit aufwende und sich jedes Match reinziehe. «Das Ziel ist der Aufstieg in die fünfthöchste Liga. Wenn wir das erreichen, dann darf ich stolz behaupten, auch einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben.»
Der Regionalverband der Normandie erlaubte dem Team den Einsatz der App. Dies trotz Protesten gegnerischer Mannschaften, die sich beispielsweise darüber beklagten, ohne Entschädigung gefilmt zu werden.
Im Dezember jedoch stellte der französische Fussballverband (FFF) neue Regeln auf, die eine Gefahr für das Projekt darstellen. Die Angelegenheit wurde deshalb eine für Anwälte. Der Klub stellt sich auf den Standpunkt, dass die Regeln nicht einfach mitten in der Saison geändert werden dürfen. Ausserdem sei man bislang nicht von der FFF kontaktiert worden, weshalb man sich wie üblich auf den Rückrunden-Start in zwei Wochen vorbereite.