Es gibt Dinge, die hat Urs Fischer bei Union Berlin erst nach einer Weile erlernt. Die einzelnen Strophen der Vereinshymne zählen dazu, sagte er zumindest kürzlich in einem Interview. Dann gibt es Dinge, die musste er schon ziemlich früh aufnehmen und anwenden. Die Hände zum beschwichtigenden «Immerschön-am-Boden-bleiben» ausbreiten etwa.
Denn bei seinem Arbeitgeber, dem einstigen DDR-Pokalsieger mit Tradition in der zweiten und der Leidenschaft für die erste Klasse, ist es immer so eine Sache mit den Erwartungen. Zwar würden die eigenen Fans nie vom Aufstieg reden – selbst als Union vor zwei Jahren die Tabelle bis kurz vor Schluss anführte, glaubten sie nicht so recht daran –, das mediale Umfeld aber hakt in dieser Hinsicht lieber früher als später nach. Und so hat Fischer schon vor dem ersten Anpfiff im Sommer betont, dass die direkten Aufstiegsplätze für die Grössen aus Hamburg und Köln reserviert seien. «Und bei allem, was dahinter geschieht, können wir ein Wörtchen mitreden.»
Die Berliner reden mit – und wie. 17 Spiele lang blieben sie ungeschlagen, im 18., dem letzten vor der Winterpause gab es mit der 0:3-Niederlage gegen Erzgebirge Aue zwar einen unerklärlichen Totalausfall, doch in Köpenick sind sie zuversichtlich, dass die Unsicherheit nur vorübergehend war.
Fischers Fernsicht scheint nicht allzu schlecht zu sein, auch wenn der 52-jährige Zürcher mittlerweile ab und zu Brille trägt. Die Lücke zum Spitzenreiter HSV ist mit sechs Punkten zwar erkenn-, aber nicht unüberwindbar, den Hanseaten im Nacken sitzt ein Punkt dahinter der FC Köln. Union dürfte sich mit Rivale St. Pauli, der drei Punkte voraus liegt, darum streiten, worauf man sich in dieser Saison auch in der Super League wieder freuen darf: um einen Platz in der Barrage. Los geht es für die Berliner steil: Heute empfangen sie die Kölner, am Montag spielen sie bei St. Pauli.
An Unterstützung fehlt es dem FC Union ja selten. 1500 Zuschauer waren im Sommer an einem Testspiel gegen die Queens Park Rangers, 9000 im Herbst auswärts am Pokalspiel in Dortmund. Die Alte Försterei, das Heimstadion, ist fast immer ausverkauft, und auch ins Trainingslager reisten stattliche 250 Fans mit. Dort beobachteten sie ein nur mässig verändertes Kader bei der Vorbereitung.
Fischer hat die Spieler für seinen defensiv soliden, kompakten Fussball gefunden: drei Abgänge sind das Resultat. Für Aufsehen sorgte der Zuzug von Carlos Mané. Der Portugiese hat mit Sporting Lissabon schon so ziemlich alles gewonnen, was es dort zu gewinnen gibt, hat Einsätze in der Champions League und Aufstiegserfahrung mit dem VfB Stuttgart vorzuweisen. Mané – vorerst als Leihe mit Option auf Übernahme im Sommer in Berlin – widerlegt den Vorwurf, wonach sich die Transfers von Union vor allem am bodenständigen Vereinsbild orientieren: Spieler aus der gleichen Liga, kleinere Nummern aus dem Ausland.
Den Pragmatiker, den gibt bei Union nach wie vor Trainer Fischer. Auf die Frage, warum er sich ausgerechnet für eine Wohnung in einem unauffälligen Haus 300 Meter vom Stadion weg entschieden habe, meinte er jüngst, es habe eben pressiert. Fürs Ausgefallene sind andere zuständig: Stürmer Sebastian Andersson etwa wohnt tief im Westen, im noblen Zehlendorf, ohne Stau 40 Autominuten weg von Köpenick. Was sie bei Union gerade eint, ist die gute Stimmung – und die Sehnsucht nach dem ganz grossen Wurf.