Beim Durchblättern unserer Panini-Alben haben wir festgestellt: Es gibt gar kein Bild des Trainers – ist das schlimm?
Vladimir Petkovic: Wahrscheinlich waren sie sich einfach nicht sicher, ob dann an der EM tatsächlich noch derselbe Trainer an der Linie steht, bei diesem ewigen Karussell (lacht). Bei den Spielern ist das ein bisschen einfacher. Vielleicht kann man ja dann nach der EM eines nachdrucken…
Ein Denkmal nach dem historischen Erfolg?
Wer weiss.
Sammeln Sie selbst eigentlich auch?
Nein, nein, ich sehe meine Spieler lieber persönlich.
Kann die Schweiz Europameister werden?
Im Fussball ist alles möglich.
Das tönt schon mal zuversichtlich.
Jeder bei uns arbeitet intensiv dafür, die höchstmöglichen Ziele zu erreichen. Wir sind immer optimistisch, aber gleichzeitig auch realistisch. Wir wissen, wo wir stehen. Aber wir wissen auch, dass wir die Möglichkeiten haben, um eine gute EM zu spielen.
Wenn nun unsere Kinder sagen: «Papi, die Schweiz kann ja die EM sowieso nicht gewinnen» – was sagen wir?
Das ist eine Frage der Erziehung! (lacht) Oder vielleicht schnappen sie auch das eine oder andere in der Schule auf. Wir müssen die Kinder dazu erziehen, dass wir alle mehr an uns selber glauben. Vertrauen haben in die eigenen Stärken und alles geben – aber gleichzeitig immer die Füsse auf dem Boden halten. Einfach nur zu träumen, ist zu einfach. Man muss mit offenen Augen träumen.
Der Optimist in Ihnen sagt, die Schweiz kann Europameister werden. Aber was sagt der Realist?
Den Optimisten gewichte ich immer stärker als den Realisten. Um etwas zu bewegen, muss man optimistisch denken. Wir haben schon viele kleine Schritte gemacht. Unser Ziel ist es, dass aus diesen vielen kleinen Schritten ein grosser wird. Unsere Entwicklung stimmt mich sehr optimistisch. Nicht nur in taktisch-technischen Belangen, sondern auch mental. Was das Selbstbewusstsein angeht, haben wir ein gutes Level erreicht. Egal, ob gegen kleine oder grosse Gegner.
Gibt’s an der EM kleine Gegner?
Entschuldigung. Jetzt habe ich einen Begriff gebraucht, der mir gar nicht gefällt. Denn ich erwarte, dass man jeden Gegner respektiert.
Kein Problem.
Also, wir haben uns gegen starke Gegner, gegen Mannschaften wie Deutschland und Spanien, die an der EM zum Favoritenkreis zählen, gut präsentiert. Das stimmt mich optimistisch. Aber realistisch gesehen sind wir nicht auf dem Level dieser Mannschaften. Wir brauchen einen perfekten Tag, wir brauchen von jedem der 16 eingesetzten Spieler mehr als 100 Prozent, um gegen Gegner wie Italien, England, Spanien, Frankreich, Deutschland oder Belgien ein gutes Resultat zu erreichen. Diese Teams haben zweifellos mehr Qualität. Wenn sie 100 Prozent geben und wir auch, haben sie einen Vorteil. Aber wenn wir an die 120 Prozent kommen, können wir gegen solche Mannschaften gewinnen.
Zunächst einmal steht für die Schweiz das erste Gruppenspiel gegen Wales an …
… Ja, und dieser erste Schritt ins Turnier kann entscheidend sein. Mit einem Sieg gegen Wales würden wir mit leichteren Füssen, mit mehr Selbstbewusstsein, mit einer noch positiveren Einstellung in Rom gegen Italien antreten. Ein Sieg zum Start erleichtert die weitere positive Turnierentwicklung enorm.
Wales ist an der EM 2016 bis in den Halbfinal vorgestossen. Was können Sie aus deren Exploit für die Schweiz ableiten?
Wir konzentrieren uns nicht auf die Gegner oder auf Beispiele aus der Vergangenheit. Wir ziehen unser Ding durch. Wir haben in den letzten Jahren selber viele positive Ereignisse erlebt, dass wir lieber daraus Kraft ziehen. Aber natürlich immer auch mit einer differenzierten Betrachtung, weil wir uns ja ständig verbessern wollen. Die Waliser indes werden sicher versuchen, den Geist von damals heraufzubeschwören. Verständlich. Einerseits, weil etliche Spieler immer noch dabei sind. Andererseits, weil es ein herausragender Exploit war. Aber sowohl in Wales als auch in der Türkei glauben die Menschen, dass ihre Mannschaft mindestens die Achtelfinals erreicht. Und es sind beides gute Teams.
Nach der WM 2018 kam es zur Verjüngung des Teams. Mittlerweile sind Ex-Captain Lichtsteiner, Behrami, Dzemaili, Djourou und Gelson Fernandes allesamt nicht mehr dabei. Ist der Umbruch abgeschlossen?
Ich glaube, es ist immer noch ein Prozess. Aber wir sind auf gutem Weg. Für den einen oder anderen Spieler war der Abschied schmerzhaft, das war vielleicht auch eine Schocktherapie für das ganze Team. Aber es hat sich gelohnt. In der Zeit von zwei Jahren haben wir einiges umgebaut. Verschiedene noch jüngere Spieler ans Team herangeführt. Ich unterscheide zwei Phasen.
Nämlich?
Die erste Phase war die Nations League 2018, die ersten Spiele nach der WM. Dort war es heikel. Weil es zu viele Wechsel auf einmal waren. Wir wussten nicht: Auf welchem Niveau sind wir ohne diese guten Spieler, die überdies enorm viel fürs Nationalteam geleistet haben? Aber langsam haben wir unser Level gefunden. Und es war wichtig, dass wir 2019 beim Finalturnier der Nations League dabei sein konnten. Das hat niemand erwartet. Und uns als Gruppe weitergebracht. Wenn so ein Exploit gelingt, dann ist es danach plötzlich einfacher, die eine oder andere Sache anzupacken. Wir mussten auch in der EM-Qualifikation leiden. Aber die Erfahrungen waren wertvoll. Im letzten, verkürzten Länderspieljahr schliesslich konnten wir gezielt an unserem Stil arbeiten.
Sie sind schon fast sieben Jahre Nationaltrainer. Was war denn das beste Spiel Ihrer Mannschaft?
Schwierig zu sagen. Mein zweites Spiel als Nationaltrainer fand im Oktober 2014 in Slowenien statt. Wir verloren zwar 0:1. Aber wir haben ein sensationelles Spiel gemacht. Oder der 3:2-Sieg gegen Slowenien nach einem 0:2-Rückstand im September 2015. Das war vielleicht eines der schönsten, interessantesten Spiele. Oder das 5:2 gegen Belgien im Herbst 2018. Ausserdem: An den letzten zwei Endrunden haben wir nur ein Spiel verloren: Den Achtelfinal an der WM 2018 gegen Schweden. Und wir spielten gegen hochkarätige Teams wie Frankreich und Brasilien.
Wir dachten, Sie würden das 0:1 in Dänemark im Oktober 2019 in der Liste der besten Spiele berücksichtigen. Diese Partie ging ja nur verloren, weil der dänische Torhüter Schmeichel das Spiel seines Lebens spielte.
Ja, das war wirklich ein richtig guter Auftritt. Wir sind so dominant aufgetreten, wie ich mir das immer wünschte. Dass man trotz einer solchen Leistung verliert, passiert höchstens einmal in zehn Spielen. Aber das sind auch Spiele, die uns weiterbringen. Wie auch die Niederlage gegen Spanien. Weil diese Spiele das Bewusstsein stärken, dass wir gegen jeden Gegner dominant auftreten können.
Was war Ihre grösste Enttäuschung?
Natürlich kann man das Achtelfinal-Aus an der WM gegen Schweden nennen. Aber da muss man in Betracht ziehen, was im Vorfeld passiert ist. Ich will nicht von einem verdienten Sieg der Schweden sprechen. Denn wir haben versucht, das Spiel zu drehen. Aber die mentale Energie hat uns nach dem Serbien Spiel und den Diskussionen um den Doppeladler-Jubel gefehlt.
Wir hätten auf den EM-Achtelfinal 2016 gegen Polen getippt, wo die Schweiz im Penaltyschiessen scheiterte. Allein, dass die Schweiz trotzt drückender Überlegenheit in den letzten 50 Minuten die Entscheidung nicht herbeiführen konnte, war enttäuschend.
Ja, aber für mich war es nicht die grösste Enttäuschung, weil wir – klammern wir die erste Halbzeit aus – so dominant aufgetreten sind, wie wir uns das vorgenommen haben. Für mich ist der Schweden-Match die grössere Enttäuschung, weil wir in jenem Spiel nicht alles gemacht haben, um besser zu sein.
Vor dieser EM wird es wohl überall heissen: Jetzt MUSS es mit dem Viertelfinal klappen. Stört Sie diese Erwartungshaltung?
Ja, denn sie zeugt nicht von allzu viel Respekt gegenüber unseren Gegnern. Vor dem Turnier können selbst die Deutschen nicht mehr als den Viertelfinal als Ziel ausrufen. Und es kann so viel passieren. Es wäre überheblich, jetzt davon zu sprechen, dass die EM für uns nur mit dem Einzug in den Viertelfinal eine erfolgreiche EM wird. Wer hätte 1992 gedacht, dass Dänemark Europameister wird, oder 2004 die Griechen?
Also nichts mit Viertelfinal?
Nein. Ich garantiere Ihnen, dass wir alles unternehmen, um die Gruppenphase zu überstehen. Aber was, wenn wir im Achtelfinal auf Deutschland oder einen anderen starken Gegner treffen? Kann man dann den Sieg unter allen Umständen von uns erwarten? Unser Ziel ist es, so weit wie möglich zu kommen. Sollten wir den Viertelfinal erreichen, werden wir uns bestimmt nicht mit dem Erreichten begnügen, sondern nach mehr streben.
Wie entscheidend ist bei einem Turnier die Zeit zwischen den Spielen, damit die Richtung stimmt? Oder anders gefragt: Was unternehmen Sie gegen den Covid-Koller?
Die Zeit, die Sie ansprechen, ist tatsächlich sehr wichtig. Aber dieses Mal ist vieles anders. Wir haben zum Beispiel keine Stammbasis wie an anderen Turnieren, weil wir zwischen Baku und Rom hin und her jetten. Allein durch den ständigen Tapetenwechsel ist die Gefahr eines Lagerkollers gering. Ausserdem: Wer für die Schweiz an einer EM teilnehmen darf, unternimmt nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz alles für den Erfolg. Ich werde alles dafür tun, um eine Sieger-Atmosphäre zu kreieren. Aber auch darum war es mir wichtig, dieses freie Wochenende für die Spieler vor dem Abflug nach Baku einzuplanen.
Kann die Schweizer Nationalmannschaft ohne Granit Xhaka funktionieren?
Warum sollte ich ihn draussen lassen? (lacht)
Natürlich nicht. Aber eine Verletzung oder eine Sperre kann es immer geben.
Dann müssen wir ohne ihn funktionieren! Wir wollen nicht von einem einzigen Spieler abhängig sein, das ist klar. Genauso klar ist aber, dass Granit mit seinen fussballerischen, mentalen und menschlichen Fähigkeiten für uns den Unterschied ausmachen kann. Zum Glück war er in letzter Zeit immer dabei. Er hat seit der WM 2018 kein einziges Länderspiel verpasst.
Seit knapp einem Jahr ist er nun Captain. Wie hat er sich in der neuen Rolle gemacht?
Sehr gut. Die Mannschaft hat sich gut eingelebt mit ihm als Chef. Und er hat es verstanden, die Mannschaft auf eine eigene Art zu führen. Er bietet überall Hilfe an, wo er kann. Und die Mannschaft nimmt das gerne an.
Bei seinem Verein Arsenal musste Xhaka zuletzt jedoch häufig Linksverteidiger spielen. Ist das ein Problem fürs Nationalteam?
Sicher ist das nicht gerade optimal für ihn. Aber mit dem optimistischen Blickwinkel erkenne ich, dass die Erfahrung nicht nur schlecht ist. So lernte er auch eine andere Defensiv-Phase. Er musste mehr Mann gegen Mann spielen, das war vorher noch nicht so seine Lieblingsbeschäftigung. Mal schauen, ob er Rodriguez Konkurrenz macht – ich hoffe es nicht (lacht).
Langsam hat man auch das Gefühl, dass sich Spieler neben Xhaka entfalten können. Aber das hat gedauert, sowohl bei Remo Freuler, wie auch bei Denis Zakaria.
Das stimmt. Aber eines ist mir wichtig: Wer beim eigenen Verein eine wichtige, dominante Rolle innehat, der nimmt dieses Selbstverständnis, die Spielhärte, den Rhythmus automatisch auch ins Nationalteam mit. Dann fällt vieles leichter. Freuler ist ein gutes Beispiel dafür. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, den Spielern Vertrauen zu schenken, ihnen klarzumachen: «Hey, nach einem Fehlpass ist nicht gleich alles schlecht.» Im Gegenteil: Wir unterstützen sie! Schön ist es dann für mich, zu sehen, wie einige Spieler die Energie aus der Zeit mit der Nati nutzen und der Trend im Verein aufwärts geht.
Ich glaube an diese Mannschaft und traue ihnen durchaus einen exploit zu. Dass die Spieler und Trainer auch daran glauben ist doch die Grundlage um überhaupt am Turnier teilzunehmen.
Vor der Saison hätte wohl auch kaum jemand gelglaubt dass Lille oder Atlético Meister werden oder Luzern den Cup gewinnen kann.