Ein Donnerstagnachmittag im November. Durch die Lobby des deutschen Fussballbundes (DFB) in Frankfurt streifen Journalisten aus ganz Europa: Engländer, Holländer, Franzosen. Alle haben nur ein Ziel. Sie wollen zu Bibiana Steinhaus (38), der ersten Schiedsrichterin in der Bundesliga. Ihr Debüt vor wenigen Wochen verlief, wie es sich alle Schiedsrichter wünschen: fehlerlos.
Die Polizistin, die seit 20 Jahren Fussballspiele pfeift, hat schon viel erlebt. Einmal sagte ihr ein Nationalspieler ins Gesicht: «Frauen haben auf dem Fussballplatz nichts verloren», ein anderes Mal fasste ihr ein Spieler versehentlich an die Brust. Steinhaus sagt, ihr gehe es um Gerechtigkeit, egal ob auf dem Rasen oder im Leben. Kurios: Erst ein zu enges Kleid brachte sie zum Fussball.
Bibiana Steinhaus, Sie arbeiten als
Schiedsrichterin und Polizistin.
Sind Sie eine Regelfanatikerin?
Bibiana Steinhaus: Das sind natürlich
artverwandte Berufe, das stimmt. Allerdings
würde ich eher sagen: Ich mag
Gerechtigkeit.
Aber Sie können auch mal etwas
durchgehen lassen?
Ich bin auf dem Fussballplatz bekannt
dafür, dass ich viel sehe, aber wenig höre (schmunzelt). Fans und Spieler können
schon mal laut werden, das gehört
beim Fussball dazu, da darf man nicht
zu zart besaitet sein. Der Unterschied
zu meinen Kollegen in der Bundesliga
ist, dass ich die Einzige bin, die mit
blondem Pferdeschwanz über den
Platz läuft.
Ihr erster Auftritt in der Bundesliga
wurde dennoch von vielen Seiten
als historisch gefeiert. Wie hat sich
Ihr Debüt angefühlt?
Ob das historisch ist, sollen andere beurteilen.
Ich pfeife schon seit 20 Jahren,
deshalb ist das für mich nicht
wirklich neu. Die Geschwindigkeit des
Spiels ist allerdings komplett anders als
in der 2. Liga. Alles geht viel schneller,
ist dynamischer. Das war schon ein
grosser Schritt.
Ist es für Sie mehr Last oder Lust,
Vorreiterin zu sein?
Es ist beides. Ich habe nicht um die Vorreiterrolle
geworben, die ist auf meinem
Weg einfach dazugekommen. Deshalb
beschäftige ich mich nicht damit.
Aber der Druck ist grösser: Wenn
Sie schlecht pfeifen, wird es für andere
Frauen noch schwieriger.
Das ist schon ein bisschen so. Vor meinem
ersten Bundesligaspiel sind viele
Kolleginnen auf mich zugekommen, haben
mir Glück gewünscht und gesagt:
«Vergiss nicht, du tust das nicht nur für
dich, du tust es für uns alle.» Das hat
meinen Rucksack, den ich ohnehin zu
tragen habe, noch etwas schwerer gemacht,
muss ich ehrlich sagen. Wir befinden
uns am Anfang einer Entwicklung.
Das Schöne ist, dass am Ende des
Tages nur die Leistung zählt, egal ob
Mann oder Frau.
Trotzdem bleibt Fussball eine Männerdomäne.
«Frauen haben im
Fussball nichts verloren» hat Ihnen
einmal der Nationalspieler Kerem
Demirbay auf dem Feld ins Gesicht
gesagt. Wie gehen Sie damit um?
Er war sauer, weil er wegen eines Fouls
eine rote Karte gesehen hat. Beim
Rausgehen hat er sich nochmals umgedreht,
um mir seine Empfindung mitzuteilen
(schmunzelt). Das habe ich
dann in aller Ruhe im Spielberichtsbogen
notiert. Das Schöne in Deutschland
und Europa ist, dass Männer und Frauen
gleichberechtigt sind, das ist ein hohes
Gut, das wir uns hart erarbeitet haben.
So eine Haltung ist heute einfach
nicht angemessen.
Trotzdem haben die vergangenen
Wochen gezeigt, dass Sexismus
noch immer tief in der Gesellschaft
verwurzelt ist. Wie erleben Sie die
#MeToo-Debatte?
(überlegt lange) Ich habe Sexismus in
dieser Form glücklicherweise nie selber
erlebt. Mittlerweile ist mir aber klar geworden,
dass das nicht selbstverständlich
ist. Das ist sehr schade. Es ist für
uns als Gesellschaft unfassbar wichtig,
die Gleichberechtigung hochzuhalten.
Gibt es im Fussball auch den umgekehrten
Fall, dass Männer Ihnen gegenüber
höflicher sind?
Wenn Sie die Spieler fragen, sagen die
tatsächlich: «Ja, wir benehmen uns besser,
wenn eine Frau pfeift.» Ich kann
mir vorstellen, dass Spieler von Mann
zu Mann schneller verbal ausfallend
werden.
Wie werden Sie auf dem Platz angesprochen?
Manchmal kommt es vor, dass Spieler
mich «Herr Schiedsrichter» nennen.
Das passiert aber im Eifer des Gefechts.
Es zeigt mir, dass es den Fussballern
egal ist, ob ein Mann oder eine Frau
pfeift.
Noch immer hinkt der Fussball in
manchen Bereichen hinterher. Sie
sind Vorreiterin der Frauen. Wäre
es hilfreich, wenn ein homosexueller
Spieler die Vorreiterrolle übernehmen
und sich outen würde?
Da bin ich die Falsche, um Ratschläge
zu geben, denn das ist eine sehr persönliche
Entscheidung. Die Vorreiterrolle
kann, wie Sie sagten, Lust und
Last sein. Ich wollte immer Schiedsrichterin
in der Bundesliga werden und
bin deshalb diesen Weg gegangen. Aber
ob und wann ein Spieler bereit ist, sich
zu outen, kann ich nicht entscheiden.
Kommen wir zu einer kuriosen Szene:
Der Bayern-Spieler Franck Ribéry öffnete Ihnen zu Beginn der Saison
während eines Spiels die
Schnürsenkel. Sie haben nur gelacht.
Warum?
Welche Reaktion hätten Sie denn erwartet?
Da er Ihre Autorität untergräbt,
hätten Sie die gelbe Karte zeigen
können.
Das stimmt zwar regeltechnisch. Herr
Ribéry ist aber, wie er ist: ein Spassvogel.
Meine Autorität war immer noch
intakt. Für mich hat sich der Spass
mehr wie eine Willkommensgeste angefühlt.
Er hatte dabei keine Hintergedanken.
Wenn ich Ribéry verwarnt hätte,
hätte ich bloss noch mehr Aufmerksamkeit
auf die Szene gelegt.
Bei Star-Trainer Pep Guardiola, der
seinen Arm um Sie legte, haben Sie
komplett anders reagiert. Sie haben
seine Hand weggestossen.
Ich war vierte Schiedsrichterin und er
beschwerte sich über eine zu geringe
Nachspielzeit. Bis es so weit kam, hatten
wir aber bereits 90 Minuten miteinander
zu tun. Das war schon anstrengend.
Guardiola ist ein sehr emotionaler
Trainer, gibt viele Anweisungen und
ist sehr aktiv an der Seitenlinie. Ihn
musste ich erst mal beruhigen
Gibt es Spieler, zu denen Sie einen
speziellen Draht haben?
Ich bin ja schon lange dabei, das gilt
auch für viele Profis. Man begegnet sich
immer wieder, das ist schön. Dann
plaudert man natürlich miteinander.
«Mensch, wie gehts dir?» und so weiter.
Nehmen Sie zum Beispiel Peter Niemeyer,
der mir in einem Spiel mal versehentlich
an die Brust gefasst hat. Das
ging sofort durch die Medien. Wir haben
uns seither immer wieder gesehen
und können darüber lachen.
Es existieren zwei Geschichten darüber, warum Sie Schiedsrichterin
geworden sind. Einmal soll ein Kollege
Ihres Vaters Sie darum gebeten
haben, ein anderes Mal soll es ein
zu enges Kleid gewesen sein. Was
stimmt denn nun?
Beides. Beim Kollegen ging es um die
Schiedsrichterrolle, aber wie ich zum
Fussball gekommen bin, hat tatsächlich
mit einem Kleid zu tun. Ich bin ursprünglich
Schwimmerin und war in
der Jugend sehr erfolgreich. Allerdings
hatte ich damals mit 15 dann auch den
typischen Körper einer Schwimmerin,
breite Schultern, kurze Haare. Das war
schon ziemlich männlich. Ich war mit meiner Mutter ein Kleid für den Abschlussball
aussuchen, passte aber in
keins so richtig rein. Dabei waren Corsagenkleider
– oben eng, unten ein
Röckchen – damals absolut up to date.
Ich hätte gerne so ein Kleid getragen.
Also sagte ich mir, wenn ein solches
Kreuz das Ergebnis meines Trainings
ist, dann mach ich das nicht mehr. Darum
ging ich auf den Fussballplatz.
Das klingt jetzt eitel.
Stimmt, aber eigentlich bin ich das gar
nicht. Wenn man schwitzend und triefend
bei schlechtem Wetter über den
Platz rennen muss, bleibt nicht viel
Platz für Eitelkeiten. Aber im Alter von
15 Jahren war das einschneidend.
Seit dieser Saison wird der Videobeweis
eingesetzt. Wie lautet Ihr Zwischenfazit?
Ich bin total überzeugt davon.
Die Kritik wird wöchentlich lauter.
Den Versuch gibt es ja nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Italien
oder in den USA. Wir müssen nun einfach
klare und eindeutige Regeln kommunizieren,
damit alle wissen, woran
sie sind. Aber nach einem Dutzend
Spieltage zu sagen, nützt alles nichts,
stampfen wir wieder ein, davon halte
ich nichts. Wir müssen ein wenig Geduld
aufbringen. Der Viedoassistent
wurde eingesetzt, um die Schlagzeilen
nach einem Fehlentscheid zu stoppen.
Hat leider nicht geklappt.
Ja, jetzt produzieren wir immer noch
Schlagzeilen. Aber eine Hand Gottes
wird es künftig nicht mehr geben, auch
keine Schwalben-Elfmeter mehr. Das
sind Situationen, die über Meisterschaften,
ja sogar WM-Titel entscheiden können.
Wir wollen doch fairen, gerechten Fussball.
Sehen Sie keine Gefahr, dass die
Schiedsrichter passiver werden und
lieber abwarten, weil sie wissen,
dass notfalls jemand eingreift?
Nein, ich will als Schiedsrichter doch
das Heft des Handelns in der Hand behalten,
ich werde dafür bezahlt, Entscheidungen
zu treffen. Der Videoschiedsrichter
ist nur eine Hilfe, die
mich noch mal retten kann.
Welche Spiele sind denn für einen
Schiedsrichter am schwierigsten zu
pfeifen?
Es gibt einige Mannschaften, die sind
unglaublich schnell im Umschaltspiel.
Zum Beispiel Dortmund, Hoffenheim
oder Gladbach. Die sind schon zügig
unterwegs, kaum haben sie den Ball,
geht die Post ab. Ich war zuletzt vierte
Offizielle beim Spiel Dortmund gegen
Bayern. Da muss ich sagen, gerade die
erste Halbzeit war schon sehr beeindruckend.
Wie bereiten Sie sich vor?
Ich schaue mir die Schlüsselspieler an,
die ein Spiel schnell machen. Wie verhalten
sie sich in der Regel? Welches ist
der stärkere Fuss? Wie weit holen sie
bei einem Pass aus? So sehe ich, ob ein
langer oder ein kurzer Ball gespielt
wird. Dann versuche ich zu antizipieren,
um dem Spiel einen Schritt voraus
zu seien, damit ich in den entscheidenden
Situationen richtig stehe.
Unser Schiedsrichter der Nation,
Urs Meier, sagt, ein guter Schiedsrichter
muss manchmal auch Dinge
pfeifen, die er nicht sieht. Klingt
seltsam, pfeifen Sie auch so?
Nein, das nicht. Was Urs meint, ist,
dass wir einen grossen Erfahrungsschatz
haben. Hunderte von Situationen
sind in meinem Kopf gespeichert,
dann weiss ich auch, ob etwas in der Situation
nicht stimmt. Wenn zum Beispiel
der Torwart bei einer hohen Flanke
in den Fünf-Meter-Raum nirgends zu
sehen ist, dann ist die Chance gross,
dass er behindert wurde. So meint es
Urs. Wenn ich es nicht sehe, habe ich
aber meine Assistenten. Und natürlich
die Körpersprache der Spieler selber.
Was verbinden Sie neben Urs Meier
mit der Schweiz?
Esther Staubli natürlich, eine tolle
Schiedsrichterin. Sie war gerade bei
der U17-Weltmeisterschaft der Männer
im Einsatz. Wir sind einen langen Teil
des Weges gemeinsam gegangen. Heute
sind wir nicht nur Kolleginnen, sondern
auch Freundinnen. Ausserdem
bin ich oft bei der Uefa in Nyon.
Sie haben auch den ehemaligen
Fifa-Präsidenten Sepp Blatter getroffen.
Wie war die Begegnung?
Sehr inspirierend. Er hat damals vor
der WM der Frauen 2011 und 2015 eine
Rede gehalten. Er war ja immer ein
grosser Förderer des Frauenfussballs
und auch der Schiedsrichterinnen. Dafür
bin ich ihm dankbar.
Ihr Lebenspartner, der Engländer
Howard Webb, war ebenfalls Spitzen-Schiedsrichter.
Wird zu Hause
zu viel über Fussball gesprochen?
Zu oft sicher nicht. Wir schaffen es, Distanz
zum Fussball herzustellen. Aber
es ist schön, dass Howard weiss, wie es
ist, auf dem Platz vor Tausenden Menschen
zu stehen. Er kennt den Druck,
der auf einem lastet. Und er weiss, wie
man sich fühlt, wenn es mal nicht so
gut gelaufen ist.
Fürchten Sie in solchen Momenten
die Presse?
Nein, das hat weniger mit den Medien
als mit einem selbst zu tun. Es ist
schmerzhaft, dem eigenen Anspruch
nicht gerecht zu werden. Das beschäftigt
mich dann lange und ich gehe hart
mit mir ins Gericht. Aber das ist massgeblich,
um sich weiterzuentwickeln.
Was möchten Sie noch erreichen?
Eine WM der Männer?
Erst mal möchte ich, dass die Bundesliga
gut funktioniert. Ich habe bei den
Frauen alle grossen Spiele gepfiffen.
Wir müssen nicht immer von höher,
schneller, weiter sprechen. Ich möchte
den Moment erst mal geniessen.