Am Ende gewinnt einer: Geld, eine Medaille, einen Titel. Das Publikum jubelt oder weint. Ob Fussball, Schach oder Weitsprung: hartgesottene Sportfans reagieren immer auf dieselbe Art und Weise. So funktioniert Sport.
Und dann gibt es noch Kampfsport.
Sieg und Niederlage, Geld und Gürtel existieren in dieser Disziplin wie in jeder anderen Sportart. Doch da ist eine Komponente mehr. Kampfsport ist nicht einfach ein beliebiger Wettbewerb, von einem britischen Aristokraten im 17. Jahrhundert erfunden – aus lauter Langeweile.
Körperliche Auseinandersetzungen sind urmenschlich. Sie sind bis heute existenzbestimmend. Wer wird unterworfen, wer darf leben, wer darf sich fortpflanzen. Federer bedroht niemanden existentiell. Es hat wohl noch nie hat jemand gesagt: «Nimm dich in Acht vor dem dünnen Burschen. Er spielt die Filzbälle gefährlich präzis zwischen die Kreidelinien.»
Beim jungen Mike Tyson war das anders. Ihn umgab eine Aura der Urgewalt. Dieselbe Ausstrahlung hatte auch der kürzlich verstorbene Marvin Hagler. In einer anderen Welt, einer anderen Zeit, einer wie derjenigen von «Conan der Barbar», wären sie Könige gewesen. Und das spüren auch die Zuschauenden. Sie wissen, dass es im Kampf Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau um mehr geht als nur um Sieg oder Niederlage. Es geht um physische Unterwerfung. Es geht um den menschlichen Urkonflikt.
Könige wie Tyson und Hagler regieren, bis einer kommt, um sie mit noch grösserer Gewalt vom Thron zu stossen. Ein realeres «Game of Thrones» gibt es nicht. Am Wochenende hat die UFC einen neuen Herrscher erhalten. Und was für einen.
Francis Ngannou holte sich in Las Vegas den Schwergewichtsweltmeistertitel der UFC gegen Stipe Miocic durch KO in der zweiten Runde. Irgendwann konnte sich auch der taktisch clevere Miocic nicht mehr genug schützen.
Keiner schlägt härter als der neue König – keiner hat je härter geschlagen. Das behauptet wenigstens das UFC–Performance–Center. Ngannous Schlag soll über dieselbe Power verfügen wie ein kleiner Personenwagen. Ob die Zahlen korrekt sind, ist schwer zu überprüfen. Ngannous Kampfstatistik lassen sie aber glaubwürdig erscheinen.
Bis zu seinem ersten UFC-Titelkampf gegen Miocic (den er 2018 verlor) überstand keiner seiner Gegner die zweite Runde. Auch erfahrene Ex-Weltmeister hielten sich nicht lange auf den Beinen. Cain Velasques schaffte 26 Sekunden, Junior dos Santos eine Minute und elf Sekunden, Andrei Arlovski immerhin 25 Sekunden länger.
Längst wissen seine Gegner von Ngannous Schlagkraft. Vor seinem Duell mit dem Kameruner stärkte Alistair Overeem 2017 intensiv seine Nackenmuskulatur. Die von Diego Sanchez entwickelte Trainingsmethode sollte ihm dabei helfen, die harten Schläge besser wegzustecken. Genützt hat es nur bedingt. Nach 102 Sekunden krachte ein Ngannou-Haken derart brutal auf Overeems Kinn, dass dessen Kopf zurückklappte wie ein Pez-Spender. Fehlte nur noch, dass er Bonbons auswarf.
Augenzeugen hielten den Atem an. So brachial war schon lange niemand mehr auf die Bretter geschickt worden. Später folgte die Entwarnung. Er erfreue sich guter Gesundheit, twitterte Overeem. Es gebe keine bleibenden Schäden.
No damage and all healthy thankfully.. unfortunately lost today. Props to @francis_ngannou, I got hit with a uppercut from he**, one of his specialities which we new were very dangerous. Some chill time now before back to the drawing-board 🙏🏽
— Alistair Overeem (@Alistairovereem) December 3, 2017
Die Art und Weise, wie Ngannou im Ring dominiert, erinnert an Mike Tyson. Und wie Tyson kommt auch Ngannou aus äusserst schwierigen Verhältnissen.
Francis Ngannou verbrachte seine ersten Lebensjahre im 10'000-Seelendorf Batié in Kamerun. Seine Eltern trennten sich, als er sechs Jahre alt war. Fortan sorgte sich seine Tante um ihn. Aufgrund seiner Postur warben schon früh verschiedene Strassengangs um seine Dienste. Vergeblich. Ngannous Vater war ein berüchtigter Strassenschläger. Der Sohn wollte nicht denselben Weg einschlagen.
Happy Mother’s Day to this wonderful woman who has been through hell to raise a stubborn kid like me, and sacrificed everything to see us happy. #MothersDay ❤️ pic.twitter.com/4lMUeR0k3N
— Francis Ngannou (@francis_ngannou) May 10, 2020
Mit zehn Jahren begann er, in einer Sandmine zu arbeiten. Ihm blieb keine andere Wahl: «Ich musste mich am Abend zum Markt schleichen, um dort Essen zu finden. Manchmal stritt ich mich mit einer Ratte um eine verfaulte Tomate.»
Später arbeitete Ngannou fünf Jahre lang als Motorrad-Taxichauffeur. Doch das reichte ihm nicht. Sein Traum war, Boxer zu werden. Er verkaufte sein Motorrad und suchte ein Fitnessstudio. Von seinen Freunden und der Familie wurde er indes für verrückt erklärt. Ngannou hatte noch nie in seinem Leben Boxtraining genossen. Und er war bereits 22 Jahre alt.
Eine Boxkarriere in Kamerun zu starten ist ein schwieriges Unterfangen. Deshalb floh er durch die Sahara über Marokko und das Mittelmeer. Er brauchte mehrere Versuche, bis er in Spanien ankam – wo er sofort verhaftet wurde. Nach zwei Monaten kam er wieder frei.
2013: 7 years ago we were freed by Spanish homeland security after spending 2 months in jail for illegally entering Europe by sea. This, after attempting for one year from Morocco. I had nothing by then but a dream and a faith of pursuing it.
— Francis Ngannou (@francis_ngannou) June 11, 2020
Some people will always (1/3) pic.twitter.com/ogfyDT5ZNw
Sofort machte er sich auf den Weg nach Paris, wo er sich komplett mittellos – ohne Geld und Bleibe – einen Boxclub suchte. Didier Carmont nahm ihn unter seine Fittiche. Von der UFC und MMA hatte er bis dahin nur am Rande gehört. Trotzdem wurde ihm geraten, diesen Weg einzuschlagen. Noch im selben Jahr bestritt er seinen ersten Kampf. Nach 104 Sekunden gewann er – man darf ein bisschen schmunzeln – mit einem Armhebel.
Einen Monat später stand Ngannou bereits wieder im Ring. Und verlor. Die Punktrichter sahen seinen Gegner vorn.
In der Folge verbesserte sich Ngannou in rasantem Tempo. Nach nur drei Jahren MMA-Training und einem Kampfrekord von 5:1 unterzeichnete er bereits seinen ersten UFC-Vertrag. Der Rest ist Geschichte. Am Wochenende wurde Ngannou, zwölf Jahre nachdem er losgezogen war, um Boxer zu werden, UFC-Schwergewichtsweltmeister.
Francis Ngannou ist jetzt 34 Jahre alt. Trotz seines Alters hat er sein Potenzial noch nicht komplett ausgeschöpft. An ihm werden sich die schweren Brocken in den nächsten Jahren die Zähne ausbeissen müssen. Und ein Typ wie Ngannou tut dem Schwergewicht gut. Die Musik und die besten Einschaltquoten spielen schon länger in den tieferen Gewichtsklassen, in denen Grossmäuler Charismatiker wie Conor McGregor, Nate Diaz, Jorge Masvidal, Israel Adesanya und Khabib Nurmagomedov das Narrativ diktieren.
Das dominante Auftreten und die Knochenbrecher-Aura von Ngannou verleiht der höchsten Gewichtsklasse wieder neue Attraktivität. Für ihn setzt man sich wieder vor den Fernseher – auch zu später Stunde noch. Ihm gelingt es, diese Urgefühle zu wecken. Ihn will man sehen, wie er seine Gegner vernichtet. Lang lebe der König. Auf dass irgendwann einmal ein David kommt, der diesen Goliath zu Fall bringt.