Tom Lüthi ist in einem gnadenlosen Business am Ende aller Ausreden angelangt. Für die enttäuschende letzte Saison mit der schwächsten Karriere-Klassierung in der Moto2-WM (10.) hatte der Emmentaler eine gute Erklärung: Die technische Betreuung funktionierte nicht. Er fühlte sich nicht mehr wohl. Er war in seinem Team ein Fremdkörper geworden. Salopp auf einen Nenner gebracht: ein braver Schweizer als Opfer in einem Deutschen Team mit einem deutschen Teamkollegen. Tönt immer gut. Und entspricht wohl auch der Wahrheit.
Sein Freund und Manager Daniel Epp hatte es nach der Polemik rund um Tom Lüthi griffig und selbstbewusst formuliert: «Wir werden die Antwort in der neuen Saison auf der Rennpiste geben.»
Diese Antwort ist bisher ausgeblieben. Vor einem Jahr hatte Tom Lüthi die offiziellen Vorsaison-Tests teilweise nach Belieben dominiert. Er galt als einer der Anwärter auf den WM-Titel.
Nun spricht vor der neuen Saison zum ersten Mal niemand mehr von Tom Lüthi. Bei den letzten Tests kam er unter den 30 Piloten gerade noch auf Position 20. Hinter Klassen-Neulingen wie Raul Fernandez (8.), Albert Arenas (9.), Ai Ogura (12.) und Tony Arbelino (16.).
Titanen wie Sam Lowes oder Remy Gardner lagen bei allen Tests ausser Reichweite. Noch schlimmer: Der niederländische Teamkollege Bo Bendsneyder (8.), zwölf Jahre jünger, war bei allen Tests schneller.
So weit zurück lag der Emmentaler vor einer Moto2-Saison noch nie. Und die sportliche Nummer 2 im eigenen Team war er auch noch nie.
Zum ersten Mal plagen Tom Lüthi leise Selbstzweifel. Das sagt er natürlich nicht. Ein Rennfahrer zweifelt offiziell nie. Seine Worte verraten keine Unsicherheit. Seine Körpersprache hingegen schon.
Wer bei den Tests hinterherfährt, weist darauf hin, dass es nicht um Spitzenzeiten gehe. Sondern darum, zu testen. Zu lernen. An vielen Details zu arbeiten. Und dann aus den Erkenntnissen bis zum ersten Rennen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Genau das sind die Erklärungen von Tom Lüthi.
Was ist los? Daniel Epp hat wahrlich alles getan, was getan werden konnte. Er hat ein neues Team gesucht und gefunden. Tom Lüthi fährt mit Vertrag für diese und nächste Saison im Team von Eduardo Perales. Der Spanier kennt das Business. Er ist seit der ersten Moto2-Saison (2010) dabei.
Nach der Vertragsunterzeichnung waren alle voll des Lobes. Daniel Epp sagte: «Wir sind sehr froh, dass die Zusammenarbeit zustande gekommen ist. Das Team ist sehr klein, die Wege sind kurz und wir fühlen uns seit den ersten Gesprächen sehr wohl. Die kurzen Wege werden uns helfen, die richtigen Wege und Mittel zu finden, um an der Spitze mithalten zu können.»
Teamchef Eduardo Perales rühmte: «Wir freuen uns sehr, Tom begrüssen zu dürfen. Wir denken, dass er wirklich gut in unser Team passt. Er ist ein sehr konkurrenzfähiger Pilot und wir wollen um Siege fahren.» Und Tom Lüthi freute sich: «Das Team ist klein und sehr familiär, was mir ein gutes Gefühl und eine gute Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gibt.»
Das Team perfekt. Die Technik kein Problem. Ein weltmeisterliches Kalex-Fahrwerk. Reifen und Motoren sind sowieso bei allen gleich. Die Erfahrung: reichlich. Tom Lüthi hat bereits 302 Rennen bestritten. Das Talent steht bei 17 Siegen, 48 weiteren Podestplätzen und einem WM-Titel sowieso nicht zur Debatte. Der Erfolgsdruck ist mit einem Zweijahresvertrag für diese und nächste Saison auch nicht zu gross.
Nun ist es Daniel Epp auch noch gelungen, die finanzielle Situation auf hohem Niveau zu stabilisieren.
Tom Lüthi ist zwar nach der enttäuschenden letzten Saison zum ersten Mal in der Moto2-Klasse nicht mehr ein bezahlter, sondern ein zahlender Pilot. Er wird nicht mehr bezahlt, um in einem Team zu fahren. Er muss eine sechsstellige Summe bezahlen, um in einem Team fahren zu können.
Aber er hat Glück: Er muss diesen Betrag nicht aus seinen persönlichen Werbeeinnahmen – sie dürften wieder mehr als eine halbe Million betragen – bestreiten. Daniel Epp hat einen langjährigen Werbepartner zur Rückkehr bewogen. Der Sportwetten-Anbieter «Interwetten» mit Sitz in Wien, von 2006 bis 2018 bereits ein treuer Partner, kehrt nach zweijähriger Abwesenheit zurück.
Mit Tom Lüthi darf «Interwetten» in der Schweiz weiterhin nicht werben. Solche Reklame würde sowieso keinen Sinn ergeben: Ausländische Sportwettenanbieter sind inzwischen verboten. «Interwetten» bezahlt die Einkaufsumme für Tom Lüthi und tritt offiziell als Sponsor des gesamten in der Nähe von Barcelona domizilierten Teams auf. Diese frohe Botschaft wird Daniel Epp am Mittwoch offiziell verkünden und er sagt: «Es hilft immer, wenn man mit einem Sponsor Geld in ein Team einbringt…»
Tom Lüthi ist also am Ende aller Ausreden angelangt: alles, wirklich alles stimmt. Sogar die Finanzen. Das ist im Motorsport nie selbstverständlich.
Was ist also los? Die Erklärung ist gar nicht so kompliziert.
Tom Lüthi ist in der zweitwichtigsten Töff-WM nach wie vor einer der smartesten und begabtesten Piloten. Bisher ist es ihm gelungen, mit Intelligenz und Talent weitgehend wettzumachen, was ihm die neue Generation an Wagemut und Risikobereitschaft voraus hat.
Nun ist Tom Lüthi in einem kritischen Alter angelangt. Mehr und mehr lebt er auch dank seines klugen Manager Daniel Epp in einer gewissen Komfortzone.
Seine privilegierte Herkunft befreit ihn von allen Existenzsorgen: Als einer der populärsten helvetischen Einzelsportler ist er im nationalen Töff-Werbemarkt konkurrenzlos. Anders als die jungen Spanier oder Italiener, die einem gnadenlosen Konkurrenzkampf ausgesetzt sind.
Mit bald 35 ist Tom Lüthi nach wie vor motiviert. Dieser Sport ist seine Leidenschaft. Angst hat er keine und topfit ist er auch. Er ist immer noch zu Spitzenklassierungen fähig.
Aber die Leistungsdichte wird immer grösser. Die Moto2-WM ist mehr denn je die Durchgangsklasse auf dem Weg zu Millionen und Glamour, die es nur in der Königskategorie MotoGP gibt.
Tom Lüthi tritt gegen Konkurrenten an, die fahren, als ob es keinen nächsten Tag gäbe. Die mit allen Mitteln nach oben wollen. Jedes Jahr schaffen es zwei oder drei in die Königsklasse. Sie werden sogleich ersetzt durch noch wildere Heisssporne aus der Moto3-WM.
Kommt dazu, dass die erschwerten Bedingungen eines internationalen Sportes in einer Blase dem sensiblen Weltmeister von 2005 viel Energie kosten. Sie setzen ihm stärker zu als der neuen Generation.
Töffrennfahrer betreiben einen Extremsport. Jeder Fehler kann die Gesundheit oder das Leben kosten. Das kleinste Zögern die Sekundenbruchteile, die über Sieg oder Hinterherfahren entscheiden.
Irgendwann, je nach Lebenssituation früher oder später, kommt für jeden die Zeit, in der einer nicht mehr alles riskieren und in der „Todeszone“ fahren mag. Ist dieser Zeitpunkt da, sind die Chancen auf Siege und Spitzenklassierungen dahin.
Ist für Tom Lüthi dieser Zeitpunkt gekommen? Das ist die grosse Frage vor der neuen Saison.
Vieles spricht dafür, dass dieser Zeitpunkt nicht mehr fern ist. Seine Chancen auf weitere Siege und Podestplätze sind ungefähr gleich gross wie die Aussichten von Roger Federer auf einen weiteren Grand-Slam-Triumph.
Roger Federer sind inzwischen unabhängig von seinen Resultaten Respekt, Wohlwollen und Medienpräsenz sicher. Von Tom Lüthi werden hingegen Spitzenresultate erwartet. Ein 8. oder 9. Platz mag eine grosse Leistung sein. Doch das Publikum sagt dazu: na und?
Ausreden hat der Emmentaler keine mehr. Wenn es diese Saison nicht klappt, garantiert ihm im nächsten Herbst auch der Zweijahresvertrag mit seinem Team keine Karriere-Fortsetzung.