Die Supersport-WM hat nicht das Prestige der GP-Szene. Aber es ist immerhin die fünftwichtigste WM nach den Klassen MotoGP, Moto2, Moto3 und Superbike.
Geld ist in der Supersport-Klasse nicht viel zu verdienen. Dominique Aegerter fährt um Spesen und Prämien. Und das ist das Problem. Der Rohrbacher hat sich – wie letzte Saison – des Geldes wegen auch in der «Batterie-WM» (MotoE-Weltcup) verdingt. Dort verdient er im Team des Deutschen Batterie-Herstellers «Intact» mehr als in der Supersport-Klasse.
Eigentlich schien nichts dagegen zu sprechen, des Mammons wegen auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Nur einmal kommt es zu einer Terminkollision: Im September, wenn beim GP in Misano die letzten zwei Batterie-Rennen gefahren werden, rückt die Supersport-Klasse in Barcelona aus. Der Vertrag mit dem Intact-Team ist klar: Dominique Aegerter muss in Misano den Elektro-Elefanten reiten.
Das schien kein Problem: Zwei von 24 Supersport-Rennen auslassen? Na und? Aber nun ist alles anders. Dominique Aegerter dominiert die Supersport-Klasse nach Belieben. Er hat auf Yamaha fünf der ersten acht Rennen gewonnen und führt die WM-Wertung mit 44 Punkten Vorsprung an. Soeben hat er die beiden Rennen in Assen auf eine Art und Weise dominiert, dass sich der Deutsche Peter Oettl als Zweitplatzierter des zweiten Rennens tief verneigte und sagte: «Aegerter fährt auf einem anderen Planeten …» Pro Veranstaltung werden jeweils zwei Rennen gefahren.
Dominique Aegerter steuert also auf Titel-Kurs. Damit hat er nicht gerechnet. Aber erst ein Drittel der WM (8 von 24 Rennen) ist ausgefahren. 44 Punkte Vorsprung können bei zwei Rennen an einem Wochenende dahinschmelzen (für den Sieg gibt es 25 Punkte). Gut möglich, dass am Ende, wenn Mitte November abgerechnet wird, jeder Punkt zählt. Die Terminkollision Misano/Barcelona, die bei der Saisonplanung ein vernachlässigbares Detail schien, kann Dominique Aegerter 50 mögliche Punkte und den Titelkampf kosten.
Diese Ausgangslage wird noch brisanter, weil der schnellste Berner in der «Batterie-WM» drei Rennen vor Schluss auf Rang 4 der Gesamtwertung mit 17 Punkten Rückstand nur noch theoretische Titelchancen hat. Sein Problem: Bei den Batterie-Rennen zählt jedes zusätzliche Kilo. Der kräftige Modellathlet ist mit 69 Kilo schwerer als alle seine Konkurrenten. Er kann zwar dank Mut, Kampfgeist und Fahrkunst vorne mithalten. Aber nicht dominieren. Beim letzten Elektro-Rennen in Assen war er zu wagemutig und stürzte. Es würde also schon Sinn machen, die zwei letzten Batterie-Rennen in Misano zu «schwänzen» und dafür in Barcelona um den Supersport-Titel zu kämpfen.
Darf er also Misano auslassen, um seine Chancen in der Supersport-WM zu wahren? «Nein» sagt Dominique Aegerter. «Die vertraglichen Abmachungen sind ganz klar: An erster Stelle kommt der E-Weltcup, dann die Supersport-WM und danach allenfalls Einsätze als Ersatzfahrer in der Moto2-Klasse.» Sein Bruder Kevin, der sich ums Management kümmert, bestätigt diese eindeutige Vertragssituation, fügt aber an: «Je nachdem wie die Situation sein wird, werden wir das Gespräch suchen …»
Gespräche werden nötig sein. Die Situation ist nämlich aus zwei Gründen brisant: Erstens: Der MotoE-Weltcup wird auf der grossen GP-Bühne ausgetragen und hat Präsenz im öffentlich-rechtlichen TV. Die Supersport-WM wird hingegen praktisch unter Ausschluss der grossen Sportöffentlichkeit zelebriert. Weder sein Teamchef noch seine persönlichen Sponsoren und Team-Investoren wären «amused», wenn er auf die zwei Auftritte auf der grossen Bühne in Misano verzichtet.
Zweitens: Nächste Saison steigen mit Ducati und Triumph zwei legendäre Töffhersteller in die Supersport-WM ein. Beide brauchen die bestmöglichen Piloten. Das beste Argument gegenüber den Teamsponsoren, einen Schweizer statt einen Italiener oder Engländer zu verpflichten: Wir bekommen den Weltmeister! Mehr noch: Gewinnt Dominique Aegerter die Supersport-WM, dann öffnen sich für ihn auch Türen hinauf in die Superbike-WM, die «Königsklasse» der in der Biker-Kultur beliebten seriennahen Rennszene. Hier ist bei den Topteams gutes Geld im sechsstelligen Bereich zu verdienen. Nichts ist für den Marktwert eines Fahrers so wichtig wie ein WM-Titel.
Oder noch anders formuliert: Krach und Ärger in der Gegenwart durch Vertragsbruch und Verzicht auf die Batterie-Rennen in Misano, um die Zukunft mit einem WM-Titel in der Supersport-Szene zu sichern, wo «Domi» sicherlich noch drei, vier gute Jahre vor sich hat? Oder besser den Vertrag mit dem deutschen Team einhalten und wenn es dann um ein paar Punkte nicht für den WM-Titel reichen sollte, einfach polemisieren und erklären: «Die Deutschen haben mich um den WM-Titel betrogen …»? Und explizit darauf hinweisen, dass ja Tom Lüthi im Herbst 2020 im Krach von diesem Team geschieden ist und dass das nun die Retourkutsche ins Bernbiet sei?
WM-Titel hin oder her: Vertragsbruch ist weder im Sinn noch in der Art oder im Charakter von Dominique Aegerter. Sein Bruder und Manager Kevin ahnt, dass ihm noch brisante Gespräche mit Intact-Teamchef Jürgen Lingg bevorstehen. Also sagt er: «Lassen wir es doch erst einmal September werden …»
Ja, würde ich so machen. Aber ich frage mich gerade, bei wem Aegerter noch die Kunst des Polemisierens verfeinern könnte. Es muss doch irgendwo einen Hohepriester der Polemik geben?