Courchevel in den französischen Alpen, kurz vor Weihnachten: Die Skischuhe von Lara Gut-Behrami stehen noch vor dem Hotel. Um das Material kümmert sich ihr Servicemann. Sie selbst ist bereits auf dem Zimmer. Die wenigen Pausen im dicht gedrängten Leben als Skifahrerin will sie nutzen. Wie wichtig ihr dieser Ausgleich ist, hat sie erst gemerkt, als sie eine schwere Verletzung 2017 zu einer längeren Pause zwang.
Zuvor hat sie nur als Skifahrerin gelebt. Als sie in Courchevel zum Interview erscheint, sagt sie: «Mein Bezug zum Leben ist anders geworden. Ich fahre momentan Ski, aber das ist nur ein Teil davon.»
Lara Gut-Behrami, was bedeutet Ihnen Freiheit?
Lara Gut-Behrami: Freiheit bedeutet, mein eigenes Leben zu leben. Dass ich tun kann, was ich möchte, dass ich sein kann, wie ich bin, ohne, dass ich mich jedes Mal rechtfertigen muss.
Sie bezeichneten Ihren Kreuzbandriss 2017 als Befreiung. Fühlten Sie sich zuvor gefangen?
Nicht gefangen. Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr so gelebt habe, wie ich es möchte.
Was fehlte Ihnen?
Es dauerte, zu realisieren, dass etwas nicht stimmt. Schliesslich habe ich Rennen gewonnen, konnte tun, was ich liebe: Skifahren. Doch es ging nur darum, besser zu werden. Ich sagte mir immer: Das geht noch, da fehlt noch was. Ich war nie zufrieden. Es fehlte der Ausgleich in meinem Leben. Das Gleichgewicht.
Sie wurden mit 16 Jahren, als Sie in St.Moritz kurz vor dem Ziel stürzten und dennoch sensationell auf dem Podest landeten, sehr früh ins Rampenlicht katapultiert. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie der Pubertät beraubt wurden?
Nein, nicht beraubt. Ich habe dieses Leben selbst gewählt. Ich wurde nicht gezwungen, Skiprofi zu werden. Natürlich: Die Richtung wurde durch mein Talent gesteuert. Aber ich habe selbst entschieden. Ich weiss nicht, wie es gewesen wäre, hätte ich einen anderen Weg gewählt.
Würden Sie heute einen anderen Weg einschlagen?
Niemals. Ich liebe, was ich tue. Ich bin jeden Tag aufgestanden und habe alles dafür getan, dass mein Traum wahr wird. Natürlich war es nicht immer leicht. Nach meiner ersten Saison wurde mir alles zu viel. Ich hatte das Gefühl, dass ich nur Freiheit auf der Piste habe. Aber ich habe immer alles getan, um diese zwei Minuten Freiheit zu haben. Mit dem Rummel, dem Drumherum, musste ich mich arrangieren. Aber es ist doch so: Jeder hat in seinem Leben schwierige Phasen. Ohne sie könnte man das Schöne weniger geniessen. Weil man nicht wüsste, was fehlt.
Das Erwachsenwerden ist ein Reifeprozess, wie ihn alle Jugendlichen durchlaufen.
Genau! Es ist als Sportlerin, als öffentliche Person, einfach etwas anders: Mir ist es manchmal so vorgekommen, als ob ich mich immer rechtfertigen und erklären müsste. Das müssen zwar auch andere Jugendliche. Aber normalerweise passiert das im engen Kreis der Familie und von Freunden. Ich musste mich der Öffentlichkeit erklären, mein Reifeprozess fand quasi unter Beobachtung statt.
Keine einfache Situation.
Ich habe auch Fehler gemacht. Ich hätte mich mehr zurückziehen sollen, sagen: «Hey, es ist zu viel, ich mag nicht mehr!» Ich habe mich aber verpflichtet gefühlt, der Öffentlichkeit Antwort zu liefern.
Über Sie wird vieles geschrieben. Manchmal auch Falsches. Wie sehr stört Sie das?
Früher hat es mich mehr gestört. Mittlerweile ist mir klar, dass dies, was geschrieben wird, immer eine Sicht der Dinge ist. Jeder, der mit mir zu tun hat, erlebt mich anders. Ich erlebe etwas so, ein anderer nimmt mich aber ganz anders wahr. Es ist die gleiche Situation – aber aus zwei verschiedenen Perspektiven.
Sie könnten Ihre Sicht in einer Biografie erzählen.
Ein Leben ist zu reich an Geschichten, um es einfach in ein Buch zu packen. In einem Buch stehen nur Wörter. Mit Wörtern kann man zwar versuchen, alle Gefühle zu beschreiben, doch abschliessend gelingt das nie. Was man spürt und erlebt, ist nicht nur mit Worten zu erklären. Wenn etwas geschrieben ist, schwarz auf weiss, dann sagt es meist trotzdem nicht die ganze Wahrheit.
Wie meinen Sie das?
Man versucht, sich so gut wie möglich auszudrücken. Später merkt man, man hätte gerne noch dies und das ergänzt. Diese Aspekte fehlen in der Geschichte. Trotzdem wird sie erzählt. Journalisten beurteilen einen Moment im Leben, zum Beispiel eine Reaktion von mir im Ziel. Man kann viel über eine einzelne Reaktion schreiben, sie interpretieren. Aber die Geschichte dahinter geht vergessen.
Das Leben ist zu kompliziert, um darüber zu schreiben?
Nein, es ist nicht kompliziert. Ich glaube, man macht es kompliziert, indem man es mit Wörtern erklären will. Man will alles verstehen und interpretieren, und so wird es kompliziert, wenn alles analysiert wird. Das Leben ist wie eine Fahrt von mir auf der Piste. Es ist viel einfacher, es zu tun, als zu beschreiben, was ich genau gemacht habe, um schnell zu sein.
Sie haben mal beklagt, dass Sie selten gefragt werden, wie es dem Menschen hinter der Sportlerin geht. Dass nur die Leistung im Fokus stehe. In der Familie ist das anders. Fühlen Sie sich da besser verstanden?
Ja, aber vor allem akzeptiert. Manchmal ist es auch für die Familie schwierig, alles zu verstehen, was man tut. Ich bin sicher, dass meine Eltern nicht jede Entscheidung von mir verstanden haben. Aber sie haben mich immer unterstützt. Das ist es, was zählt. Sie akzeptieren mich, ohne dass ich alles rechtfertigen muss.
Die Sportlerin Lara Gut-Behrami muss sich immer rechtfertigen?
Als Athletin geht es um meine Leistung, das ist mir klar. Aber Sportler sind auch Menschen. Trotzdem werden wir oft wie Objekte behandelt. Ich kann mich an Siegerehrungen erinnern, als wir Athletinnen von besoffenen Fans angepöbelt wurden. Wir waren Trophäen für ihre Fotoalben. Das hat nichts mehr mit Respekt zu tun. Man darf mich als Sportlerin kritisieren. Ich bin die Erste, die mich kritisiert, wenn ich nicht gut gefahren bin. Aber persönliche Angriffe sind etwas anderes. Auch Sportler sind verletzlich. Und als Menschen in der Öffentlichkeit bieten wir eine riesige Angriffsfläche.
Hatten Sie schon Angst, wenn Ihnen fremde Menschen zu nahe kamen?
Es kann beunruhigend sein. Es ist schön, was ich Kindern bedeute, dass ich sie inspirieren kann, ein Vorbild bin. Aber wenn Erwachsene uns Sportler verehren und fast verfolgen, wird es schwieriger.
Uns ist aufgefallen, dass Ihnen ein Mann längere Zeit an fast jedes Rennen nachgereist ist.
Das stimmt. Wir wussten nicht, was wir tun sollen. Mein Papa hat mit ihm gesprochen, Giulia (Lara Gut-Behramis Medienverantwortliche; die Red.) hat mit ihm gesprochen. Ich selbst habe ihm geschrieben, dass ich nicht möchte, dass er an die Rennen kommt. Es war keine einfache Situation. Wir versuchten, ihm zu erklären, dass sein Verhalten nicht angebracht ist. Wenn ich mir vorstelle, dass bekannte Weltstars Tausende Verehrer haben, die ihnen folgen, die sie anhimmeln und die nachts sogar von ihnen träumen, dann kann ich ja schon fast glücklich sein.
Was ist aus dem Mann geworden?
Seit ich verheiratet bin, hat er zum Glück aufgehört, mir zu folgen.
Ihr Ehemann Valon Behrami, den Sie im Sommer geheiratet haben, hat auch sonst viel verändert.
Die Liebe zu meiner Familie hatte ich schon immer. Jetzt habe ich auch eine Liebe neben mir. Mein Bezug zum Leben ist anders geworden. Vorher habe ich gedacht, es gibt nur das Leben als Skifahrerin, und dann schaue ich weiter. Nun gibt es einfach das Leben. Ich fahre momentan Ski, aber das ist nur ein Teil davon. Jetzt weiss ich, dass ich das Skifahren nicht weniger liebe, nur weil ich denke, es wäre schön, zu Hause zu sein. Als Athletin brauche ich die Piste, das Training und die Rennen. Aber als Mensch und damit es mir gut geht, brauche ich meine Familie und will sie um mich.
Das ist nicht einfach. Sportlerinnen und Sportler sind meist viel unterwegs.
Valon und ich tun alles dafür, so oft wie möglich zusammen zu sein. Man kann denken, wir sind verrückt. Aber ich habe das Glück, dass ich Menschen um mich habe, die so leben wie ich. Immer zu Hause zu sein, ist meiner Familie zu langweilig. Mit Valon habe ich jemanden gefunden, der dieses Leben kennt und versteht. Ich schätze die gemeinsame Zeit mit meiner Familie extrem. Hätte ich die Zeit aber immer, hätte ich vielleicht nicht gemerkt, dass sie mir so wichtig ist. Ich finde meinen Job einen Glücksfall.
Erklären Sie.
Ich kann reisen, habe einen Job gefunden, der seit zehn Jahren das Leben meiner Familie finanziert. Mein Vater hatte einen normalen Job, bevor er mein Trainer wurde. Seither reist er mit mir um die Welt und erlebt wahnsinnig viel. Auch mein Bruder Ian ist als Skifahrer unterwegs und wird meist von meiner Mutter begleitet. Wir alle profitieren von dem, was ich tue. Kurz: Ich liebe, was ich tue.