«Tor Luzern!», schreit einer. Sofort renne ich zu seinem Bildschirm. Lausannes Keeper Diaw spielte einen miserablen Pass direkt in die Füsse von Luzerns Schaub, dieser weiter zu Schürpf und der trifft von der Strafraumgrenze aus. «Fehler vor Gegentor Diaw, Assist Schaub, Tor Schürpf mit links im Sechzehner», sage ich.
Im Data-Center in Volketswil, wo im Raum nebenan der VAR stationiert ist, herrscht seit Anpfiff dreier Super-League-Partien höchste Konzentration. Zusammen mit mehreren Kollegen erfasse ich hier nebenberuflich die Live-Statistik für die Swiss Football League (SFL), das heisst für die Super- und Challenge-League. Alle Spielereignisse werden live in ein System eingetippt, aus dem gewisse Ereignisse direkt in den Liveticker der SFL oder zum Beispiel zum Teletext fliessen.
Die Statistik-Erfassung ist ein aufwendiger Prozess. Eine entscheidende Rolle dabei nimmt der sogenannte Speaker ein. Er befindet sich im Stadion und kommentiert das Spielgeschehen. Anders als ein normaler Kommentator verwendet er dafür aber eine spezielle Syntax. Schürpfs Treffer, ausgegangen vom Lausanne Keeper, sprach er so: «Diaw, Middle-High Schaub, Quick Schürpf, Shot, Score, Schürpf.»
Der Speaker spricht ausnahmslos jede Aktion auf dem Feld. Präzise: jeden Ballkontakt, Pass oder Schuss, auch sämtliche Regelverstösse, Karten und Wechsel – ziemlich anstrengend über 90 Minuten hinweg. Das Ganze in Englisch, um es für die Deutschschweiz, das Tessin und die Romandie einheitlich und einfach zu gestalten.
Damit das Gesagte des Speakers auch in das System fliesst, braucht es den Writer. Er ist mit dem Speaker über Kopfhörer verbunden und verfolgt das Spiel in Volketswil. Vor sich hat er einen Touchscreen mit Feldern aller englischer Begriffe, die der Speaker verwendet. Der Writer tippt genau das ein, was der Speaker ihm sagt und unterstützt ihn bei Unsicherheiten. Denn nur wenn die Wortfolge richtig eingetippt wird, erstellt das System automatisch ein Ereignis, das in die Statistik einfliesst und gleichzeitig im Liveticker der SFL einen Eintrag generiert. Zum Beispiel das Tor durch Schürpf.
Zur Kontrolle des Ganzen arbeiten im selben Raum zwei weitere Personen, wir nennen sie die Live-Observer. Der eine konzentriert sich auf alle Spielaktionen mit dem Ball, der andere überprüft alle Zweikämpfe und Fouls. Die Live-Observer können das laufende Kameravideo vor- und zurückspulen. Ihr Auftrag ist es, falsch erfasste Ereignisse zu korrigieren und fehlende neu anzulegen. Zudem ergänzen sie die einzelnen Aktionen mit diversen Attributen, zum Beispiel, dass Diaw das Gegentor mit seinem haarsträubenden Fehlpass verursacht hat.
Zu guter Letzt wäre da noch mein Part. Ich bin als Supervisor tätig und habe die Aufsicht über alle Partien an einem Spieltag. Bei drei oder mehr zeitgleichen Partien sind jeweils zwei Supervisoren im Einsatz. Unsere Aufgabe beginnt bereits 90 Minuten vor Spielbeginn. Da bereiten wir alle Arbeitsplätze sowie die Technik vor und geben die Aufstellungen der Teams ins System ein. Während der Partie kontrollieren wir alle wichtigen Aktionen wie Tore oder Karten und machen weitere Stichproben. Dazu ist der Supervisor die entscheidende Instanz bei unklaren Spielsituationen.
Die SFL arbeitet erst seit 2020 mit diesem System. Davor wurde die Statistik noch von zwei Personen live im Stadion erfasst. Heute sind mit dem Speaker, dem Writer und den Live-Observern vier Leute pro Spiel tätig. Hinzu kommen die Supervisoren.
Ein Grund für die Systemumstellung war das Ziel, die Datentiefe zu erweitern. Denn mehr Personen bedeuten auch mehr Daten. Zwar wurden schon früher nicht nur nackte Zahlen erhoben. Es wurde etwa ergänzt, wenn ein Tor nach einem Corner gefallen ist. Allerdings waren einerseits die Ereignisse und andererseits diese Spezifizierungen begrenzt. Zweikämpfe, Zuspiele und Ballkontakte wurden nicht berücksichtigt. Das ist mit dem neuen System anders. Jeder Pass und Schuss, jeder Ballkontakt und Zweikampf sowie jedes Dribbling und Foulspiel wird jetzt festgehalten und dazu spezifisch charakterisiert. Mehr Daten als je zuvor im Schweizer Fussball.
Dadurch können aus nackten Zahlen aufschlussreiche Erkenntnisse gewonnen werden. Beispielsweise wird bei jedem Zuspiel die Passdistanz präzisiert. Nimmt man nun einen Innenverteidiger, der eine hohe Passgenauigkeit von langen Pässen (über 30 Meter) aufweist, kann man ihm wohl anhand blosser Daten eine starke Spielauslösung zusprechen.
Ein zweites Beispiel: Bei jedem Torschuss wird neu unter anderem ergänzt, ob es eine Grosschance war, sprich der Schütze aus gutem Winkel, kurzer Distanz und mit freier Schussbahn abdrücken konnte. Daraus liesse sich ableiten, welches Team die meisten Grosschancen herausspielt oder etwa, welcher Stürmer am meisten Grosschancen versiebt.
Gerade für die Spieler, Trainer und Scouts, aber auch die Medien und die Fans kann das interessant sein. Doch die Statistik deckt nicht nur vorteilhafte Aktionen auf. Lausannes Keeper Mory Diaw wird jedenfalls kaum Freude an der Statistik «Fehler vor Gegentor» haben.