Am 2. Mai 2006 wird der italienische Fussball in seinen Grundfesten erschüttert. Die «Gazzetta dello Sport» veröffentlicht an diesem Tag einen Teil der Abhörprotokolle von Telefongesprächen des Juventus-Turin-Generaldirektors Luciano Moggi. Dass dieser mit einem mafiösen System den italienischen Fussball kontrolliert und manipuliert, ist längst vermutet worden. Schliesslich nennen sie den damals 68-jährigen Moggi in Italien schon lange «Lucky Luciano». Wie Salvatore Charles «Lucky» Luciano, einer der ersten Mafia-Bosse im New York der Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts.
In der «Gazzetta dello Sport» also können die Tifosi nachlesen, wie Moggis Manipulationen System haben. Dabei geht es nicht um Sportwetten – gerade in den deutschen Medien wird der italienische Fussballskandal fälschlicherweise oft als Wettskandal bezeichnet – oder Resultat-Absprachen. Nein, Moggi macht seinen Einfluss geltend, in dem er die Schiedsrichterzuteilung bei Serie-A-Spielen manipuliert. Den Schiedsrichterobmann weist er mal an, der Referee der Partie Sampdoria Genua gegen Juventus Turin solle «50 Augen offen halten, um auch Dinge zu sehen, die man gar nicht sehen kann». Juventus gewinnt darauf in Genua dank eines grosszügig gepfiffenen Penaltys.
Doch Moggis Manipulationen gehen weiter und helfen Juventus oft auch über Umwege. Schiedsrichter werden mit Rolex-Uhren oder sogar Ferraris bestochen, damit sie bei Teams, die in der darauffolgenden Runde auf die Turiner trafen, die Karten absichtlich so verteilten, dass wichtige Spieler dann gegen Juventus gesperrt sind. In der Saison 2004/05 werden auf diese Weise 29 von 38 Partien von Juventus verfälscht.
Um dieses System aufrechtzuerhalten, legt sich Moggi eine beeindruckende Handy-Infrastruktur zu. Die Ermittler finden heraus, dass er sechs Mobiltelefone gleichzeitig in Betrieb hat. In einem Zeitraum von neun Monaten werden rund 100'000 (hunderttausend!) Telefonanrufe gezählt, über 400 pro Tag. In diesen neun Monaten benutzt Moggi 300 SIM-Karten, davon viele von Schweizer Anbietern. Abschütteln kann er seine Verfolger dadurch aber nicht.
Und so fliegt Moggi und Juventus Turin das System im Sommer vor 14 Jahren um die Ohren. Der Meistertitel 2006 wird auf dem Rasen noch gewonnen. Doch «die Feier wird zum Begräbnis», wie die Juventus nahe stehende Turiner Tageszeitung «La Stampa» konstatiert. Moggi ist beim letzten Spiel am 14. Mai schon nicht mehr dabei. Er ist drei Tage zuvor und neun Tage nach Veröffentlichung der Abhörprotokolle als Generaldirektor zurückgetreten.
Moggi wird zunächst für fünf Jahre, dann sogar lebenslänglich gesperrt. Strafrechtlich dagegen kommt er ungeschoren davon. Bis die Mühlen der italienischen Justiz zu Ende gemahlen haben, sind Moggis Taten längst verjährt. Heute ist Moggi zwar nicht mehr mittendrin, aber immer noch dabei. Er ist ein gern gesehener Gast in TV-Talks. Dort erklärt er der Nation den Calcio.
Moggi ist im korrupten System zwar das Zentrum, aber nicht der einzige Darsteller und Täter. Mit der Affäre sind insgesamt fünf Staatsanwaltschaften beschäftigt. Sie ermitteln gegen mehr als 50 Personen und mehrere Klubs. Das kriminelle Handeln von Juventus zieht die Reaktion der Konkurrenz nach sich, auch sie wählt den Weg der Mauscheleien und Bestechungen. Im Sommer 2006 werden auch Fiorentina, Lazio Rom und Milan sowie eine Vielzahl kleinerer Vereine bestraft. Am Schlimmsten aber trifft es Juventus Turin. Der Rekordmeister wird zwangsrelegiert und muss in der Serie B mit einem Handicap von 9 Punkten starten.
So erleben die Italiener vor 14 Jahren einen Fussball-Sommer, der auf groteske Weise eine Mischung aus Märchen und Drama ist. Während die Prozesse anlaufen, erst medial, dann (sport-)juristisch, spielt sich die Squadra Azzurra in Deutschland in einem eindrücklichen Steigerungslauf zum vierten WM-Titel.
Die ersten Urteile werden am 14. Juli gesprochen, fünf Tage nach dem Triumph im Final von Berlin. In diesem Final stehen bei Italien und Frankreich insgesamt neun Spieler von Juventus auf dem Platz. Von Gigi Buffon über Fabio Cannavaro bis zu Alessandro Del Piero; von Liliam Thuram über Patrick Vieira bis zu David Trezeguet.
Darin finden viele Juventus-Fans die Bestätigung, dass ihr Team zu dieser Zeit sowieso das beste ist. Und auch Moggi findet alles halb so schlimm. Kürzlich sagte er im TV: «Ich musste eine Welt von Teufeln kontrollieren. Aber Telefonieren ist doch wirklich kein Verbrechen.» Einige TV-Macher sehen dies wohl ähnlich. In den Studios wird Moggi noch heute fast ehrfürchtig als «Direttore» angesprochen.