Wer über Walter Reusser spricht, der erwähnt zwei Dinge: die innere Ruhe und das Kommunikationstalent. Der ehemalige Servicemann und Europacup-Trainer ist ein Chef, bei dem man sich verstanden fühlt. Seine Führungsqualitäten stellte der auf der Hügelkette des Luzerner Seetals wohnhafte Berner nach dem Wechsel in die Privatwirtschaft ab 2005 auch bei Stöckli unter Beweis. Geholt als Rennsportleiter im alpinen Skisport, übernahm er dort immer mehr Verantwortung. Zuerst für die gesamte Skiproduktion, dann für den weltweiten Vertrieb aller Produkte bis hin über das gesamte operative Geschäft.
Im vergangenen Jahr entschied sich Reusser, nochmals ein neues Kapitel aufzuschlagen. Als er seinen Job bei Stöckli kündigte, gingen die Pläne zuerst in andere Richtungen als zurück zum Skisport, obwohl er bei Swiss-Ski bereits 2013 und 2015 für den Job als Alpindirektor hoch im Kurs stand. Doch letztlich klappte es, auch weil ihn CEO Bernhard Aregger und Präsident Urs Lehmann unbedingt ins Boot holen wollten. Seit dem 1. Dezember 2019 verantwortet Walter Reusser den Bereich Ski alpin, ist damit Vorgesetzter von derzeit 93 Athletinnen und Athleten vom C-Kader bis zur Nationalmannschaft und 78 Trainern, Betreuern und eigenen Serviceleuten.
Reusser wollte sein Team möglichst rasch kennen lernen. Kein einfaches Unterfangen mitten im Winter, wo Rennfahrer und Trainer oft über die ganze Welt verstreut sind. «Da kamen einige Kilometer zusammen», sagt der Alpindirektor. Und zum ersten Mal die Erkenntnis, wie unterschiedlich die Führungsrolle im Vergleich zu einer Firma ist, wo man vom eigenen Büro aus quasi den ganzen Betrieb überblicken kann.
Dem 44-Jährigen war wichtig, dass in diesem heterogenen Gefüge Verantwortlichkeiten und Rollen klar definiert und verteilt sind. Und er freute sich über die grosse Offenheit in den vielen Gesprächen. Zugleich half der Austausch, sich ein Bild über das aktuelle Konstrukt zu machen, ohne während einer laufenden Saison schon zu stark eingreifen zu wollen. Reusser intervenierte nur punktuell, aber mit einer Konsequenz und Gelassenheit, die ihm von Beginn weg grossen Respekt einbrachten.
Die gegenseitige Wertschätzung gehört zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren des «Systems Reusser». Selten war die Zufriedenheit der Athletinnen und Athleten derart gross wie nach diesem – wegen Corona alles andere als einfachen – Sommer. Das Trainingsprogramm war schnell klar und konnte bis ins Detail durchgezogen werden, die Kaderselektionen fielen früher als bei allen anderen Nationen und gaben zu keinerlei Diskussionen Anlass.
Gleichzeitig arbeitete Reusser an den Lücken im System. «Obwohl ich schon lange mit dem Skisport verbunden bin, stiess ich auf ganz viele Themen, die ich nicht gekannt habe», sagt er. Defizite machte er bei den Trainingsstrukturen und der Auswahl der Trainingspisten aus. Um die Kaderstrukturen zu optimieren, wurden die Trainingsgruppen von 12 auf 16 ausgebaut und damit die Voraussetzungen geschaffen, um individueller zu agieren. Talente von unten werden punktuell nach oben genommen, aber nicht mehr zu früh und dem Umstand geschuldet, dass man Gruppen auffüllen muss. Reusser weiss, wo er mit Hilfe des um rund zehn Prozent erhöhten Alpin-Budgets den Hebel ansetzen will, damit der Platz als Nummer 1 im ewigen Duell mit Österreich keine Eintagesfliege bleibt.
Er hat in die Strukturen abseits des grossen Scheinwerferlichts investiert. «Im Europacup sind wir zu wenig stark aufgestellt», sagt Reusser. Dort soll es künftig die gleiche Aufteilung in drei Trainingsgruppen und die gleiche Manpower im Trainerteam geben wie beim Weltcupteam. So dass die Fahrerinnen und Fahrer aus dem B- und C-Kader ihren Weg an die Weltspitze konsequent gehen können. «Wenn man von absoluten Ausnahmetalenten absieht, dauert es sieben bis acht Jahre, bis aus einem Athleten aus dem C-Kader ein Podestfahrer im Weltcup werden kann», erklärt Reusser. Deshalb sei es gerade in Zeiten von Erfolg an der Spitze unglaublich wichtig, den Blick zum Nachwuchs zu richten.
Bei den Trainingspisten möchte man längerfristig noch mehr Skigebiete an Bord holen. Derzeit bestehen Zusammenarbeitsverträge mit rund zehn bis zwölf Destinationen. Kurzfristig hat Swiss Ski organisiert, dass die Riesenslalomteams vor dem Weltcupstart in Sölden erste Trainingstage auf Kunstschnee im Engadin auf der Diavolezza absolvieren können.
Die lange Rennpause bis im Dezember möchte man mit Trainings in Zinal (ab 1. November), Davos (ab 10. November) und Veysonnaz (ab 20. November) überbrücken. Für die Skigebiete ist der Aufwand beträchtlich, wie Reusser erklärt. «Die Zeiten sind vorbei, wo auf einer Piste am Vormittag die Cracks und am Nachmittag die Touristen fahren. Moderne Rennpisten werden derart vereist, dass die Verhältnisse extrem spezifisch auf die Profis zugeschnitten sind.»
Auch in diesen Diskussionen profitiert Walter Reusser von seinen Leitlinien: Ruhe ins System bringen, die Übersicht behalten, einen Fokus geben und für Beständigkeit sorgen. «Und bisweilen handeln anstatt herum zu studieren», wie er betont.