Dick Fosbury revolutionierte den Hochsprung, als er die Latte als erster Mensch erfolgreich rückwärts überquerte. Seit Jan Boklöv damit Siege feierte, segeln Skispringer im V-Stil durch die Luft. Und in der NBA versuchen die Teams deutlich mehr Drei-Punkte-Würfe, seit die Golden State Warriors um Stephen Curry damit eine Erfolgs-Ära einläuteten.
Vielleicht wird der Name von Bryson DeChambeau bald in einer Reihe mit diesen Sportlern aufgezählt. Der 27-jährige Amerikaner schickt sich gerade an, den Golfsport zu revolutionieren. Sein Physikstudium hat ihm den Spitznamen «The Scientist» verschafft und mit wissenschaftlichen Methoden versucht DeChambeau, erfolgreich zu sein.
Erst war da die Sache mit seinen Schlägern. Bei ihm sind sie, anders als bei den anderen Spielern, alle gleich lang. Nur die Neigung der Schlagfläche ist unterschiedlich. So spielt der Kalifornier schon seit seiner Teenager-Zeit. Es mache das Golfen einfacher, ist er überzeugt.
Sein optisches Markenzeichen ist eine altmodische Schiebermütze, die er in verschiedenen Ausführungen auf dem Platz trägt und für die er häufig belächelt wird. Doch mittlerweile erkennt man Bryson DeChambeau nicht nur aufgrund seiner Kopfbedeckung. Sondern auch aufgrund seiner Muskelmasse. Innerhalb eines Jahres hat er seinen Körper so gepumpt, dass er nun 20 Kilogramm schwerer ist. Die Kraft steckt er in seinen Schlag – und das ist der revolutionäre Ansatz seines Spiels.
Der Wissenschaftler schlägt dank seiner Power weiter ab als alle anderen, er ist der «Happy Gilmore» der echten Welt. Kürzlich knackte er mit einem Abschlag die magische Grenze von 200 Meilen pro Stunde (320 km/h). So kann er viele Hindernisse – Sandbunker, Teiche oder Bäume – einfach umspielen. Er schlägt so wuchtig und weit, dass sein Ball näher am Green landet als diejenigen der Gegner. Kritiker sprechen verächtlich von «Minigolf», weil DeChambeau primär gut einlochen muss. Als er am Montag unter anderem mit Vorjahressieger Tiger Woods eine Trainingsrunde spielte, landeten die Abschläge von DeChambeau in der Regel 20 Meter weiter vorne als jene der Mitspieler.
Die Golf-Ikone Woods ist voll des Lobes. «Was Bryson gemacht hat, ist absolut unglaublich. Wir sind alle schwer beeindruckt, wie sehr er sich und sein Spiel in so kurzer Zeit verändert hat», sagte der mittlerweile 44-Jährige. «So etwas hat es im Golf noch nicht gegeben.»
Seit nach der Corona-Zwangspause wieder gespielt wird, ist DeChambeau der Golfer, der am weitesten schlägt. Und er ist gut wie nie. Erst gewann er das Turnier von Detroit, dann lag er bei der PGA Championship, dem ersten Major-Event 2020, am Schlusstag in Führung, um am Ende Vierter zu werden. Sechs Wochen später holte er buchstäblich zum grossen Schlag aus, als er Mitte September die US Open gewann, sein erster Triumph an einem Major-Turnier. Dieser hievte ihn nun auch in Augusta in die Position des Topfavoriten.
Was die Geschichte des «Hulk des Golfs» spannend macht, ist die Tatsache, dass er schon vor seiner Verwandlung einer der Weltbesten war. Das Jahr 2018 schloss DeChambeau auf Rang 5 der Weltrangliste ab, aktuell liegt er auf Position 6. Es ist also nicht so, dass da einfach einer direkt aus dem Gym kommt und Bälle nach vorne drischt. Vielmehr ist es so, dass der 27-Jährige das Spiel in seine Einzelteile zerlegt hat und versucht, diese mit wissenschaftlichen Methoden wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Dazu gehört für ihn, dass, wer mehr Kraft hat, den Ball weiter schlagen kann und so näher am Loch zu liegen kommt. Simple Physik. So wie Cristiano Ronaldo seinen Körper gestählt und sein Spiel verändert hat, mit dem Resultat, dass er nun nicht mehr der schnelle Dribbler am Flügel ist, sondern ein eiskalter Vollstrecker und der wahrscheinlich beste Kopfballspieler der Welt.
Wie den portugiesischen Fussballstar zeichnet auch den kalifornischen Golfer seine Besessenheit aus. «Ich bin nicht aussergewöhnlich talentiert», sagte er einst, «aber ich gebe alles. Ich kann überall gut sein, wenn mir etwas gefällt und ich mich reinhänge.» Selbst auf dem Platz arbeitet er an seinem Körper: Alle sechs Löcher trinkt er einen Protein-Shake, dazu isst er Energie-Riegel wie ein Radprofi.
Der US-Sender ESPN hat im Vorfeld des Masters insgesamt fünf Löcher ausgemacht, an denen die Konkurrenz mit ihren kürzeren Schlägen das Nachsehen haben könnte. Während bei ihnen beispielsweise der Ball ungefähr auf Höhe eines Bunkers zu liegen kommt, schlägt DeChambeau locker drüber. Und er muss auch nicht zwischen zwei Baumreihen hindurch zielen – er drischt den kleinen weissen Ball einfach gleich über die Bäume. «Ich stehe hin und versuche, den Ball wie ein Baseballer, der einen Homerun schlagen will, so hart wie es geht zu treffen», beschreibt DeChambeau seine «Taktik». Fünf Locher bedeuten vier Runden: Er hat dank seiner Kraft 20 Mal die Chance, die Gegner schon mit dem ersten Schlag zu distanzieren.
Bei den eher kühlen, nassen Bedingungen an diesem Wochenende kommen seine Stärken noch mehr zur Geltung. «Der Kurs wird super soft sein», sagte sein Coach Mike Schy gegenüber der BBC und kündigte an: «Dass Bryson den Ball so weit schlagen kann, gibt ihm einen gigantischen Vorteil.» Schy betonte, dass sein Schützling in den vergangenen eineinhalb Jahren auch das Putten markant verbessert hat: «Dass er die Bälle so weit schlagen kann, hat ihm generell mehr Selbstvertrauen verliehen. Er zählt zu den zehn besten Puttern der Welt, für mich ist er die Nummer 1.»
Setzt sich dieser Spielertyp auf lange Sicht durch, könnten sich die Betreiber gezwungen sehen, ihre Golfplätze umzubauen. Oder die Funktionäre ändern die Regeln für die Schläger, so wie einst in der Leichtathletik ein neuer Speer mit einem anderen Schwerpunkt eingeführt wurde. Die Sportler warfen so weit, dass die Stadien zu klein wurden.
In der Theorie klingt der Weg zum Turniersieg einfach. Und in der Praxis zeigte Bryson DeChambeau in den vergangenen Monaten, dass er mit seinen Ansätzen tatsächlich das Zeug hat, um eine der traditionsreichsten Sportarten der Welt für immer zu revolutionieren. Die Zukunft wird weisen, ob sein Name dereinst in einem Atemzug mit jenen von Dick Fosbury oder Jan Boklöv genannt werden wird.
Er selber glaubt, dass er noch weiter schlagen kann. Dieser Tage sagte er, befragt zu seinen Abschlägen: «Ich habe mich nun laufend verbessert und fühlte mich von Tag zu Tag stärker. Daher weiss ich wirklich nicht, wo für mich die Grenze liegt.» Sollte er tatsächlich zum grossen Dominator aufsteigen, erhält er sicher auch einen deutschen Wikipedia-Eintrag. Wobei dessen Fehlen mehr über die Bedeutung des Golfsports im deutschsprachigen Raum aussagt als über die fehlende Bedeutung von Bryson DeChambeau …