Tracy McGrady ist in den 2000er-Jahren einer der begabtesten Skorer der NBA. Der 2,03-Meter grosse Shooting Guard startet 2001 so richtig durch und wird zum am meisten verbesserten Spieler der Liga gewählt. 2003 und 2004 wird er bei den Orlando Magic NBA-Topskorer, weitere sechsmal steht sein Name in der Top 10 der Punkte-Rangliste.
Im All-Star-Game 2004 versenkt «T-Mac» einen sensationellen Eigen-Alley-Oop übers Brett, ein halbes Jahr später wirft er gegen die Washington Wizards starke 62 Punkte. McGrady ist damals kaum zu stoppen. Kobe Bryant nennt ihn sogar den härtesten Gegner, den er je verteidigen musste. Dabei war die «Black Mamba» bereits aktiv, als «His Airness» Michael Jordan noch persönlich durch die Hallen flog.
Im Dezember 2004 hat McGrady – nach seinem Trade zu den Houston Rockets – seinen grössten Auftritt. Beim 81:80-Sieg im Texas-Duell gegen die San Antonio Spurs skort McGrady in den letzten 35 Sekunden 13 Punkte seiner insgesamt 33 Punkte und sorgt damit für eine sagenhafte Wende.
64:74 liegen die Rockets im I-10-Derby (beide Städte liegen an der Interstate 10) zurück, die Uhr zeigt noch 1:02 Sekunden an. 35 Sekunden vor Schluss sind es noch acht Punkte, dann legt Tracy McGrady los. Der erste Dreier fliegt über Malik Rose hinweg durch den Ring, beim zweiten schickt Tim Duncan McGrady nach einem Foul sogar noch an die Freiwurf-Linie – natürlich trifft «T-Mac» auch von da.
Die Halle steht Kopf, Spurs-Coach Gregg Popovich tobt. Als dann selbst Bruce Bowen, der damals vielleicht beste Verteidiger der Liga, den Überflieger am Kreis nicht stoppen kann, liegen die Rockets plötzlich nur noch zwei Punkte zurück.
Und McGrady bringt zu Ende, was er begonnen hat. An eine Overtime denkt er nicht und so steigt er gegen Tony Parker und Manu Ginobili 1,7 Sekunden vor Schluss – nach dem Steal unter dem eigenen Korb – zum Dreier hoch. Swush, wieder flutscht der Ball durch die Maschen, 81:80 für die Rockets. Jetzt brechen im Toyota Center alle Dämme.
«Das ist ein Wunder», schwärmt Rockets-Coach Jeff van Gundy. McGrady ist zunächst sprachlos. «Ich kann es noch gar nicht fassen», sagt der damals 25-Jährige unmittelbar nach Spielschluss. «Ich weiss nicht, wie wir gewonnen haben. Und fragen Sie mich nicht, wie viele Dreier ich getroffen habe. Ich habe keine Ahnung. Ich spürte am Schluss nur, dass jeder Wurf von mir sitzen wird.»
Der Höhenflug von McGrady und seinen Rockets geht in den kommenden Wochen unvermindert weiter. Souverän führt er sein Team in die Playoffs. Dort sind die Dallas Mavericks – der zweite Rivale aus Texas – trotz McGradys 30,7 Punkten pro Spiel allerdings Endstation. Es sollte nicht die letzte Enttäuschung für ihn sein.
«T-Mac» bleibt für den Rest seiner Karriere, die er 2013 nach 16 Jahren in der NBA beendet, nämlich ungekrönt. Einen Championship-Ring wird sich der Superstar nie an den Finger stecken dürfen. Zunächst wird er von den Verletzungen seiner besten Mitspieler Grant Hill und Yao Ming ausgebremst, dann streikt der eigene Körper. Ab 2005 schlägt sich McGrady immer wieder mit Rückproblemen herum, muss sich operieren lassen und regelmässig einige Partien aussetzen.
Während seiner letzten fünf Jahre erzielt Wandervogel McGrady bei den New York Knicks, den Detroit Pistons, den Atlanta Hawks und den San Antonio Spurs im Schnitt weniger als 10 Punkte. Dabei schien sein Weg zum Superstar – zum neuen Michael Jordan – doch vorgezeichnet. Was lief neben den körperlichen Problemen noch schief? Am Können hat es nie gefehlt. McGready war ein Prototyp des perfekten Basketballers: sprunggewaltig, kreativ, vielseitig, wurfstark.
Doch bereits als Highschool-Spieler wird er permanent hochgejubelt. Seinen rasanten Aufstieg vom Nobody zum grossen Hoffnungsträger verdankt der Teenager vor allem den Show-Events der grossen US-Schuhfirmen. Sie stellen die Fähigkeiten des Einzelnen über das Teamspiel und die Grundlagenausbildung, werden aber erst zu spät als Wurzel allen Übels im US-Basketball erkannt.
Ohne Umweg über eine Universität landet McGrady 1997 von der Highschool bei den Profis. Dort macht er sich mit seinem ausgeprägten Ego wenig Freunde. In Orlando nennen ihn die Teamkollegen nur noch «Amazing», nachdem er Reportern gesagt hatte, manchmal erstaune (Englisch: «to amaze») er sich selber mit seinem Spiel. Nie muss sich McGrady durchbeissen. Den Kraftraum meidet er sogar noch, als seine chronischen Rückenschmerzen immer schlimmer werden.
Tracy McGrady hat zwar alle spielerischen Fähigkeiten, die es zum Superstar braucht. Doch ihm fehlen die Demut und der Wille, sich komplett in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Deshalb denkt man, wenn sein Name fällt, nur noch an die fantastischen 35 Sekunden und die grossartige Aufholjagd an diesem 9. Dezember 2004 gegen die San Antonio Spurs.