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Rasse, Klasse oder Identität: Was treibt die US-Politik?

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Bild: keystone
Analyse

Die tiefen Risse in der amerikanischen Gesellschaft – und was sie für die Wahlen bedeuten

01.09.2020, 16:5522.10.2020, 10:35
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Die kommenden Wahlen in den USA verdienen zu Recht das Prädikat «historisch». Für Herausforderer Joe Biden stehen Anstand, Rechtsstaat und Demokratie auf dem Spiel. Präsident Donald Trump sieht sich als letzte Verteidigungslinie gegen Sozialismus und Anarchie. Doch abgesehen von den pathetischen Beschwörungen der Politiker: Was sind die tiefer liegenden Treiber dieser Wahl? Dieser Frage gehen wir mithilfe von drei kürzlich erschienen Polit-Büchern nach.

Rassismus – oder wie zerbrechlich sind die Weissen?

Das Buch ist zwar bereits zwei Jahre alt, doch es stürmt erneut die Bestsellerlisten. Die Rede ist von «White Fragility» (Weisse Zerbrechlichkeit), verfasst hat es Robin DiAngelo. Die Autorin ist weiss, hat sich als Soziologin auf die Beziehung der Rassen spezialisiert und vermittelt dieses Wissen in Seminaren, die das Verhältnis von Weissen und Farbigen entspannen sollen.

Schon in der Einführung macht DiAngelo klar, dass Rassismus kein Problem des Individuum ist. «Gemäss der Ideologie des Individualismus ist Rasse irrelevant», macht sie klar.

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Rassismus ist folgerichtig weder ein Problem des Einzelnen noch der Hautfarbe. Vielmehr stellt DiAngelo fest:

«Das Konzept der weissen Überlegenheit bezieht sich in diesem Kontext nicht auf einzelne weisse Menschen und ihre Absichten und Aktionen, es bezieht sich auf ein allumfassendes politisches, wirtschaftliches und soziales System der Herrschaft. Nochmals: Rassismus ist eine Struktur, kein Ereignis.»

Für die These eines systemischen Rassismus zählt DiAngelo zahlreiche und überzeugende Beispiele auf: Die zehn reichsten Amerikaner sind alle weiss. 93 Prozent der Manager, die das TV-Programm bestimmen, sind weiss. Die überwiegende Mehrheit der Parlamentarier sind weiss, ebenso 83 Prozent der Lehrer, bei den Universitätsprofessoren sind es 84 Prozent. Etc. etc.

Rassismus ist kein Privileg der Weissen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. DiAngelo fasst ihn wie folgt zusammen:

«Auch Farbige haben Vorurteile gegen Weisse und diskriminieren sie, aber sie verfügen nicht über die soziale und institutionelle Macht, die es ihnen erlauben würde, ihre Vorurteile und Diskriminierung in Rassismus zu verwandeln; der Einfluss ihrer Vorurteile auf die Weissen ist zeitlich begrenzt und nur in kleinem Umfang möglich.»

Weil Rassismus nicht individuell ist und oft unbewusst abläuft, sind für DiAngelo nicht die offenen Rassisten wie etwa die Anhänger der White-Supremacist-Bewegung das eigentliche Problem. Vielmehr sind es die verklemmten Rassisten, die oft bei den aufgeklärten Liberalen zu finden sind. Sie stellt fest:

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Sind nicht das Problem: Offene weisse Rassisten.Bild: keystone
«Ich glaube, dass die weissen Progressiven den Farbigen den grössten Schaden zufügen. Als weisse Progressive definiere ich dabei jede weisse Person, die überzeugt ist, dass sie keine Rassistin ist, oder zumindest weniger rassistisch ist, oder dass sie es zumindest begriffen hat.»

Damit sind wir beim Kern der «weissen Zerbrechlichkeit» angelangt. DiAngelo versteht darunter Folgendes:

«Weisse Zerbrechlichkeit ist ein Zustand, in dem selbst ein Minimum an rassenbedingtem Stress intolerabel wird und eine Reihe von defensiven Gegenreaktionen auslöst. Zu diesen Gegenreaktionen gehört Emotionen wie Wut, Angst und Schuldgefühle und Verhaltensweisen wie Argumentation, Schweigen und das Verlassen der Stress auslösenden Situation. Diese Gegenreaktion bringen die von Weissen bestimmte Balance wieder ins Lot.»

Weil der systemische weisse Rassimums mit Macht verknüpft ist, wird er praktisch unüberwindbar. So notiert DiAngelo:

«Ich werde oft gefragt, ob die junge Generation weniger rassistisch sei. Nein, sie ist es nicht. In verschiedener Hinsicht ist die Anpassung des Rassismus über die Zeit schlimmer als die konkreten Regeln der Jim-Crow-Gesetze (Gesetze, welche die USA in einen Apartheidstaat verwandelt hatten, Anm. d. Verf.). Sie hat das gleiche Ergebnis zur Folge – Farbige werden daran gehindert, vorwärts zu kommen.»

Robin DiAngelos Konzept der «weissen Zerbrechlichkeit» wird so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Der einzelne weisse Mensch kann dem Rassismus gar nicht entrinnen. An diesem Punkt setzt denn auch die Kritik an DiAngelo an. So schreibt Carlos Lozanda in der «Washington Post»:

«Weisse Menschen sollten nicht als Individuen betrachtet werden, sondern als rassistisches Kollektiv, dazu erzogen, Schwarze fundamental zu hassen und dieses Vorurteil in Politik und Kultur zu institutionalisieren.»

John McWhorter, ein schwarzer Professor an der Columbia University, geht in der Zeitschrift «Atlantic» noch einen Schritt weiter. Er bezeichnet DiAngelo als selbst ernannte Hohepriesterin und stellt fest: «Das Problem besteht darin, dass ‹White Fragility› ein Gebetbuch ist für ein Phänomen, das nur als Kult bezeichnet werden kann.»

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Polizisten bewachen die Universität Gainesville in Florida während einer Rede des Nationalisten Richard Spencer. Bild: AP

DiAngelos Befund, dass sich der weisse Rassismus dank seiner Verbindung mit Macht vom Rassismus der Farbigen unterscheidet, trifft unzweifelhaft zu. Daher reicht es nicht, wenn sich Weisse mit Sprüchen wie «Ich kenne Farbige», «Ich bin in den Sechzigerjahren auf die Strasse gegangen», oder «Die wahre Unterdrückung liegt in der Klassengesellschaft» aus der Verantwortung stehlen wollen.

Gleichzeitig trifft es zu, dass DiAngelo zu absolutistisch argumentiert. Um ihrer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu entrinnen, müssen wir uns tatsächlich der Klassen-Frage zuwenden.

Gibt es in den USA einen neuen Klassenkrieg?

Schon kurz nach Trumps Wahlsieg warfen linke Kritiker den Demokraten vor, sie hätten sich zu intensiv auf Gender-, Sexualitäts- und Minderheitsfragen gestürzt und dabei das Wesentliche aus den Augen verloren: die Klassenfrage.

Diese Kritik wird auch von Michael Lind geteilt, einem bekannten Publizisten. Er gehört jedoch nicht dem progressiven, sondern dem konservativen Lager an. Trotzdem könnte der Titel seines jüngsten Buches auch von einem marxistischen Assistenzprofessor stammen. Er lautet: «The New Class War» (Der neue Klassenkrieg).

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Auch die Tonlage unterscheidet sich zunächst kaum von einer sozialistischen Kampfschrift. So stellt Lind gleich zu Beginn klar:

«Der Unterschied zwischen den Reichsten und den Ärmsten in New York City ist vergleichbar mit Swaziland; Los Angeles und Chicago sind ein bisschen egalitärer als die Dominikanische Republik und El Salvador.»

Diese Ungleichheit und nicht die Rassenfrage ist in den Augen Linds verantwortlich für den Niedergang der amerikanischen Gesellschaft. Als Beweis dieser These fügt er an, das in allen entwickelten Nationen der Populismus auf dem Vormarsch sei. Ob Matteo Salvini in Italien, Marine Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland, «beinahe alle politischen Unruhen in Westeuropa oder Nordamerika können mit einem neuen Klassenkrieg erklärt werden», so Lind.

Der neue Klassenkrieg trennt die Menschen nicht nur ideologisch, sondern auch geografisch. Die neue «kreative Klasse» lebt in den Städten, die alte Arbeiterklasse auf dem Land. Lind schreibt:

«Die geografische Polarisierung, die sich in den westlichen Demokratien zeigt, reflektiert die soziale Teilung zwischen Klassen, die in unterschiedlichen Gebieten leben – die mit Hochschulabschluss ausgerüstete Oberklasse und überproportional viele Immigranten in prekären Verhältnissen in den Innenstädten der Metropolen; die vorwiegend weisse Arbeiterklasse im schwach besiedelten Kernland. Ihre unterschiedlichen Ansichten zu Umwelt-, Handels- und Einwanderungspolitik und anderen Themen wiederspiegeln sich widersprechende Interessen, Werte, Lebensstile und Bestrebungen.»

In einer nostalgisch gefärbten Sicht lässt Lind den «guten» Kapitalismus der Nachkriegszeit wieder aufleben. Er nennt ihn «demokratischen Pluralismus» und beschreibt ihn wie folgt:

«Der demokratische Pluralismus in Nordamerika und Europa, eine Alternative zum extremen Liberalismus des freien Marktes und Staatskooperatismus, hat die Vertreter der nationale Oberklasse gezwungen, die Macht zu teilen und mit den weniger mächtigen unteren Eliten, die die Interessen der Arbeiterschaft vertraten, zu verhandeln, in Wirtschaft, Politik und im kulturellen Leben.»

Demgegenüber stellt Lind den «bösen» Kapitalismus, den er technokratischen Neoliberalismus nennt. Er ist das Resultat der Verbindung einer gierigen Managerklasse und einer arroganten kulturellen Elite, die dank einer globalisierten Wirtschaft die traditionelle Arbeiterschaft entmachtet und an den Rand der Armutsgrenze getrieben haben. Das Resultat beschreibt Lind wie folgt:

«Im technokratischen Neoliberalismus verfolgt die Boss-Klasse die Arbeiterklasse selbst nach Feierabend und versucht, ihr das ungesunde Steak und den Softdrink vom Teller zu schnappen und die Lehren der Arbeiterkirche zu verunglimpfen.»

Sollte dieser «böse» Kapitalismus nicht überwunden werden, droht ein schlimmes Ende: eine Gesellschaft, die von einer gierigen und technokratischen Oligarchie beherrscht und von populistischen Scharlatanen bedroht wird. Lind droht zwar nicht direkt mit der Faschismus-Keule. Doch er stellt fest:

«Eine Gesellschaft mit einer zerfallenden Demokratie, die von oligarchischen Fraktionen beherrscht wird und in der ein entfremdeter Mob Wahlen immer wieder als Vorwand für ungezügelte Verwüstung nimmt, ist dystopisch genug.»
epaselect epa08568353 Black Lives Matter protesters against racism and police brutality strom the Justice Center and clash with local police and federal agents in downtown Portland, Oregon, USA, 27 Ju ...
Gewaltsame Proteste in Portland (Bundesstaat Oregon).Bild: keystone

Der technokratische Neoliberalismus gaukle uns vor, dass die Klassenfrage überwunden sei. Wer tüchtig sei, und vor allem wer über eine gute Ausbildung verfüge, dem stünden alle Türen offen. Daher die permanente Indoktrination zum lebenslangen Lernen und der Zwang, immer weiter Diplome zu erlangen. Für Lind ist das Hokuspokus. Er stellt nüchtern fest:

«Für die amerikanische und die europäische Arbeiterklasse werden die Jobs der Zukunft mehrheitlich im Tieflohnbereich liegen, viele im Gesundheitswesen. Die meisten dieser Jobs sind nicht schlecht bezahlt, weil es den Arbeitern an einem Hochschulabschluss mangelt – dieser wird ohnehin nicht gebraucht –, oder an technischen Fähigkeiten. Es mangelt den Arbeitern schlicht an Verhandlungsmacht.»

Um diese Macht wiederzuerlangen, schlägt Lind – wie übrigens auch viele Gewerkschafter – vor, zu den Zuständen der «goldenen 30 Jahre» der Nachkriegszeit zurückzukehren. Das bedeutet, das Rad der Globalisierung wieder zurückzudrehen und die Wirtschaft auf nationale Interessen auszurichten.

Als Vorbild dienen ihm die ostasiatischen Demokratien Japan, Südkorea und Taiwan. Diese Länder würden beweisen, dass Neoliberalismus nicht das einzige Modell für eine moderne High-Tech-Demokratie sei, so Lind. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Europa würden diese Nationen weniger Immigranten ins Land lassen, und sie hätten Fabriken in weit geringerem Umfang in Billigländer ausgelagert. Daher würden diese Länder auch nicht von demagogischen Populisten heimgesucht. Lind stellt fest:

«Anders als im Westen hat es in diesen Ländern keinen von einer radikalen Elite aufgezwungenen Bruch gegeben, ihr Sozialsystem ist nach wie vor intakt. Deshalb haben sie (…) keinen populistischen Aufstand gegen den Neoliberalismus erlebt. Dieser Aufstand erschüttert heute die politischen System in Europa und Nordamerika.»

Die Analyse des konservativen Michael Lind hat, zumindest was die USA betrifft, einen gravierenden Mangel. Im Magazin «Foreign Affairs» hat Amy Chua, Professorin an der Yale Law School, zu Recht darauf hingewiesen: «In den Vereinigten Staaten hat alles, was mit Klasse zu tun hat – jeder politische Beschluss, jeder Anlass, jedes Desaster, das die Armen betrifft – unweigerlich eine Rassen-Dimension und das Potential, die Spannungen zwischen den Rassen zu verstärken.»

Die Rassen- gegen die Klassenfrage auszuspielen führt daher nicht weiter. Wir brauchen noch eine dritte Dimension.

Wie halten es die Amerikaner mit ihrer politischen Identität?

Ezra Klein ist ein aufstrebender Star im US-Politjournalismus. Er ist der Mitbegründer des Online-Newsportals Vox (eine Art amerikanische Version von watson). Sein kürzlich erschienenes Buch «Why We’re Polarized» wird bereits als Sachbuch des Jahres gefeiert. Unter dem Titel «Der tiefe Graben» wird es bald auch auf Deutsch erhältlich sein.

In seinem Buch fasst Klein viele Studien zusammen, darunter auch eine Studie der beiden Politologen Shanto Ivengar und Sean Westwood. Die beiden haben rund 1000 Menschen vor folgende Aufgabe gestellt:

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Die Testpersonen erhielten fiktive Bewerbungen von zwei Hochschulabgängern für ein Stipendium und mussten sich für den Gewinner entscheiden. Die Bewerbungen waren praktisch identisch. Nur in drei Punkten unterschieden sie sich: Leistungsnoten, Rassen- und Parteizugehörigkeit.

Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die besseren Noten den Ausschlag geben würden. Doch das war nicht der Fall. Auch die Rassenzugehörigkeit gab nicht den Ausschlag. Es war die Parteizugehörigkeit. Demokraten erteilten das Stipendium Demokraten, Republikaner bevorzugten Republikaner.

Für Ezra Klein ist die Parteizugehörigkeit in den Vereinigten Staate zu einer Mega-Identität geworden, die alle anderen Identitäten überstrahlt. Ob Religion oder Fangemeinde eines Sportklubs, sie alle müssen in die zweite Reihe zurücktreten. Klein stellt fest:

«Heute sind die Parteien scharf getrennt, und diese Trennung überstrahlt Rasse, Religion, Geographie, Kultur und Psychologie. Es gibt sehr viele Identitäten, und diese verschmelzen miteinander und türmen sich aufeinander. Deshalb aktiviert ein Konflikt oder eine drohende Gefahr sie alle. Weil diese Mega-Identitäten so viele Bereiche unseres Lebens berühren, werden sie permanent aktiviert. Das heisst auch, dass sie sie permanent gegenseitig verstärken.»

Die Polarisierung der amerikanischen Politik ist ein relativ junges Phänomen. In der Nachkriegszeit beklagten sich die Politologen, dass es zwischen den beiden Parteien zu viele Gemeinsamkeiten gebe, und dass sie zu viele Kompromisse schliessen würden.

Noch bei der Präsidentenwahl im Jahr 2000 waren diese Klagen zu hören. Der «mitfühlende Konservative» George W. Bush und der gemässigte Demokrat Al Gore seien sich viel zu ähnlich, wurde bemängelt. Eine Klage allerdings, die sich als unberechtigt erweisen sollte.

Former President George W. Bush speaks during the funeral service for the late Rep. John Lewis, D-Ga., at Ebenezer Baptist Church in Atlanta, Thursday, July 30, 2020. (Alyssa Pointer/Atlanta Journal-C ...
Galt einst als «mitfühlender Konservativer»: George W. Bush.Bild: keystone

Schuld an dieser Ähnlichkeit war die damalige Zusammensetzung der Parteien. Die Demokraten bestanden de facto aus zwei Parteien. Im Süden waren sie konservativ und teilweise offen rassistisch. Die sogenannten Dixiecrats konnten immer wieder das Zünglein an der Waage spielen und die progressiven Demokraten des Nordens zwingen, moderate Kompromisse einzugehen.

Heute gibt es keine Dixiecrats mehr. Die Demokraten sind die Multikulti-Partei geworden, die sehr viele Minderheiten unter einen Hut bringen muss. Die Südstaaten sind derweil fest in den Händen der überwiegend weissen Republikaner. Die beiden Parteien stehen deshalb vor völlig verschiedenen Ausgangslagen. Klein fasst sie wie folgt zusammen:

«Die Demokraten können keine Wahlen gewinnen ohne eine begeisterte Koalition von sehr unterschiedlichen Menschen. Die Republikaner können keine Wahlen gewinnen ohne eine aufgeputschte weisse Basis.»

Die politische Mega-Identität umfasst nicht nur alle Lebensbereich, sie macht uns zu Gefangenen. «Wir sind so in unseren politischen Identitäten eingesperrt, dass de facto kein Kandidat, keine Information und kein Zustand uns zwingen kann, unsere Meinung zu ändern», stellt Klein fest.

Was er damit meint, lässt sich an einem Schweizer Beispiel erläutern:

Roger Köppel ist ein intelligenter Mann. (Glaubt mir, ich habe jahrelang mit ihm zusammengearbeitet.) Stellt euch nun vor, er käme aufgrund neuer Informationen und Analysen zur Einsicht, dass die EU eigentlich eine ganz vernünftige Sache sei und dass die Schweiz mit ihr kooperieren sollte. Was würde geschehen? Die SVP würde ihn fallenlassen und die «Weltwoche» würde pleite gehen. Zurück zu seinen alten linksliberalen Ex-Kollegen gehen kann er nicht, da hat er jeden Kredit verspielt.

Roger Koeppel an einer Medienkonferenz in Zuerich am Donnerstag, 3. Januar 2019. SVP-Nationalrat Roger Koeppel will fuer den Staenderat kandidieren. Es ist ein persoenlicher Entscheid, so der Weltwoch ...
Fest in seiner Meinungs-Identität gefangen: Roger Köppel.Bild: KEYSTONE

Mit anderen Worten: Köppel wäre wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich am Ende. Deshalb ist es hoffnungslos, Köppel dazu zu bewegen, seine Meinung über die EU zu ändern. Er ist in seiner Meinungs-Identität gefangen und wird nur noch Informationen zulassen, die sein Feindbild der EU bestätigen.

Nüchtern stellt Klein daher fest: «Je smarter eine Person ist, desto dümmer macht sie die Politik.»

Je ausgeprägter die politische Meinungs-Identität ist, desto stärker beeinflusst sie unser Verhalten. Eine wichtige Rolle spielen dabei Feindbilder. Klein schreibt:

«Nichts kittet eine Gruppe stärker zusammen als ein gemeinsamer Feind. Nimm Zorn und Angst vor einem Gegner weg, und der Enthusiasmus deiner Anhänger schmilzt dahin. (…) Diese Lektion haben die Politiker auf der ganzen Welt begriffen. Du brauchst nicht nur Unterstützung. Du brauchst Wut.»

Diese Gefühlslage macht es fast unmöglich, dass Politiker Kompromisse schmieden. Es geht einzig noch darum, den Gegner zu besiegen, ja zu vernichten. Es ist kein Zufall, dass bei Trump jedes zweite Wort «winning» ist.

From left, Donald Trump Jr., President Donald Trump and first lady Melania Trump stand on the South Lawn of the White House on the fourth day of the Republican National Convention, Thursday, Aug. 27,  ...
Gewinnen ist alles: Die Trumps.Bild: keystone

In der amerikanischen Politik hat die politische Mega-Identität durch die demographische Entwicklung einen zusätzlichen gewaltigen Schub erhalten. Die Weissen fürchten um ihre Macht, und «die Wahl eines schwarzen Präsidenten, der eine junge, multikulturelle Koalition anführt, macht diesen Übergang überdeutlich und bedrohlich», so Klein.

Rassismus, Klasse oder Identität: Was also treibt die US-Politik? Die Frage ist falsch gestellt. Die drei Treiber überlappen sich. Das hat Martin Luther King schon vor Jahrzehnten erkannt. Im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg stellte er fest: «Das Problem des Rassismus, die wirtschaftliche Ausbeutung und das Problem des Krieges gehen Hand in Hand.» Kings Einsicht ist heute noch gültig.

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55 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
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du_bist_du
01.09.2020 17:15registriert Mai 2020
Ich finde diese Analyse extrem gut und treffend. Leider sehe ich all diese Tendenzen auch bei uns, wenn auch in leicht abgewandelter Form und noch nicht so stark.
17240
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Scaros_2
01.09.2020 17:06registriert Juni 2015
Risse? Das sind Gräben, da ist der marianengraben als tiefster Punkt neidisch.
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Heini Hemmi
01.09.2020 18:25registriert November 2017
Die Frage ist nicht, warum das Zwei-Parteien-Land USA derart polarisiert ist, sondern, warum es so lange gedauert hat, bis es derart polarisiert worden ist. Ein Zwei-Parteien-System ist das dümmstmögliche System für eine Demokratie.
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