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Vaclav Smil über die Zukunft der Ernährung: «Essen gibt es mehr als genug»

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Urban Farming, Soja, Gentech

Vaclav Smil über die Zukunft der Ernährung: «Essen gibt es mehr als genug»

Der kanadische Professor für Umweltwissenschaften, Vaclav Smil, gehört zu den wichtigsten Denkern unserer Zeit. watson sprach mit dem Universalgenie über Hunger, Gentech-Food – und sinnlose Diäten.
08.03.2014, 18:0511.11.2020, 08:52
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«Kein Wort zu Schweizer Politik. Ich habe meine Lektion gelernt.»
Vaclav Smil

Sie haben rund 30 Bücher verfasst und gelten als Universalgenie. Glauben Sie, dass Sie damit die Welt ein bisschen verbessert haben?
Vaclav Smil: Ach Gott, wer kümmert sich schon um Wissenschaft? Niemand kauft mehr Bücher, und die Zeitungen sterben sehr rasch aus.

Versuchen wir trotzdem, ein bisschen Vernunft zu verbreiten. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben beschlossen, die Zuwanderung zu drosseln. War das ein weiser Entscheid?
Um Gottes Willen, dazu sage ich gar nichts. Können Sie sich vorstellen, was für E-mails ich erhalten werde, falls ich das tun würde? Heutzutage fühlt sich jeder Idiot bemüssigt, seine Meinung abzusondern, auch wenn er höchstens einen halben Satz zum Thema gelesen hat. Deshalb: kein Wort zu Schweizer Politik. Ich habe meine Lektion gelernt.

Wir wollten die Frage bloss als Überleitung stellen zu einem Thema, mit dem Sie sich ausführlich beschäftigt haben: Können bald neun Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde überleben?
Essen gibt es grundsätzlich mehr als genug. In den reichen Ländern stehen den Einwohnern heute täglich rund 3500 Kalorien zur Verfügung. Ein durchschnittlicher Mensch verbraucht täglich bloss zwischen 2000 und 2500 Kalorien. Deshalb landet auch mehr als ein Drittel aller Lebensmittel im Abfall. Zudem könnten wir noch weit mehr Menschen ernähren, wenn wir weniger Fleisch essen würden. 70 Prozent des Getreides wird heute weltweit als Tierfutter verwendet. Menschen hungern nicht, weil es zu wenig Nahrung gibt, sondern weil sie keinen Zugang dazu haben.

Vaclav Smil
Für Bill Gates ist klar: «Diesen Autor müssen Sie lesen!» Der kanadische Professor für Umweltwissenschaften an der Universität Manitoba ist ein Vielschreiber. Rund 30 Bücher hat der gebürtige Tscheche veröffentlicht. Er beschäftigt sich vor allem mit interdisziplinären Fragen zu den Themen Energie, Umwelt, Nahrung, Bevölkerung, Wirtschaft, Geschichte und Public Policy. 2010 wurde er vom Magazin «Foreign Policy» zu den 100 einflussreichsten globalen Denkern gezählt. (sza)

Neben Hunger, was ist das dringendste Problem, das wir lösen müssen?
Am erschreckendsten ist die Tatsache, dass immer weniger junge Männer in den Arbeitsprozess integriert sind. In der westlichen Welt waren noch nie so viele davon arbeitslos wie heute. Die Schweiz und Deutschland sind – dank dem Lehrlingswesen – erfreuliche Ausnahmen. In Spanien ist jeder zweite, in New York jeder dritte junge Mann ohne Job.

Was läuft da schief in der Gesellschaft? Geht uns die Arbeit aus?
Nein, aber wir haben viel zu hohe Erwartungen und Ansprüche. Beispiel Fliegen: Vor 40 Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass man von Frankfurt nach Berlin mit dem Flugzeug reist. Heute gibt es jede Stunde einen Shuttle-Flug auf dieser Strecke. Die Menschen haben sich so schnell an so viel gewöhnt, dass wir heute unglaublich viel Abfall und Verschwendung produzieren. Und trotzdem wollen wir immer noch mehr.

Zurück zur Ernährung. Wenn Überfluss und Verschwendung das Problem sind, warum produzieren wir nicht einfach weniger?
Weil starke Lobbys dafür sorgen, dass wir die Produktion von Lebensmitteln mit staatlichen Subventionen unterstützen. Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt nur ein Land, das die Landwirtschaft nicht subventioniert: Neuseeland. Das Verhalten der reichen Länder grenzt jedoch an Wahnsinn. Wir haben viel zu viele Lebensmittel, fast die Hälfte wandert in den Abfall und wir sorgen mit Subventionen dafür, dass immer noch mehr hergestellt wird.

«Wir haben viel zu viele Lebensmittel, fast die Hälfte wandert in den Abfall und wir sorgen mit Subventionen dafür, dass immer noch mehr hergestellt wird.»
Vaclav Smil

Ist es nicht so, dass wir die falsche Art von Nahrung produzieren, nämlich Nahrung, die zwar schnell zubereitet ist, die uns aber dick und krank macht?
Nein, aber die Auswahl in den Shoppingcentern wird immer grösser, obwohl die Menschen kaum davon Gebrauch machen. Es ist absurd: Warum brauchen wir Dutzende von verschiedenen Apfelsorten? Drei würden genügen. Überhaupt: Die meisten Menschen kaufen ohnehin bloss Hackfleisch, Coca Cola und Kartoffeln.

Empfehlen Sie eine bestimmte Diät?
Diäten sind Quatsch. Einmal heisst es: viel Kohlenhydrate und wenig Fett, dann wieder das Gegenteil. Die Inuit in Kanada ernähren sich nur von Fleisch und Fisch, Vegetarier essen überhaupt kein Fleisch. Es gibt keine ideale Ernährung. Menschen sind sehr flexibel und anpassungsfähig. Wir wissen höchstens, dass gewisse Dinge schädlich sind.

Vaclav Smil über sein neues Buch «Harvesting the Biosphere»

Aber die Menschen werden dicker und Altersdiabetes ist eine Volkskrankheit geworden.
Das ist die Folge von Exzessen. Wir werden nicht dick, weil wir das Falsche essen, sondern weil wir zu viel essen. Die Japaner machen es richtig. Sie essen alles, Fisch, Fleisch, Gemüse und Getreide. Seit dem Zweiten Weltkrieg trinken sie auch Milch und schlecken Glacé. In Japan sind alle wichtigen Fastfood-Restaurants der Welt vertreten, und zwar nicht zu knapp. Trotzdem sind die Japaner viel schlanker als wir. Weshalb? Weil sie in Massen essen. Wenn ich 3000 Kalorien am Tag verzehre, aber nur 2000 brauche, weil ich mich nicht bewege, dann ist selbst die ausgewogenste Diät für die Katz. Es ist unser Lebensstil, der uns dick und krank macht, nicht unsere Lebensmittel.

«Wir werden nicht dick, weil wir das Falsche essen, sondern weil wir zu viel essen. »
Vaclav Smil

Kann man die Menschen dazu erziehen, vernünftiger zu essen?
Wir leben in der am besten ausgebildeten Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit. In den 1950er Jahren besuchten weniger als zehn Prozent aller Jugendlichen eine Hochschule, jetzt ist es mehr als die Hälfte. Hat das genützt? Ernähren sie sich vernünftiger? Die Menschen wissen nach wie vor nichts über Ernährung.

Wie erklären Sie die Masslosigkeit der Menschen beim Essen?
Lebensmittel sind billig geworden. Noch in den 1950er Jahren ist mehr als die Hälfte des Haushaltsbudgets für Nahrungsmittel verwendet worden, heute sind es rund zehn Prozent.

Wäre es nicht sinnvoll, wir würden wieder mehr Geld für gesündere Lebensmittel ausgeben, biologisch erzeugte beispielsweise?
Bio ist total sinnlos. Gibt es überhaupt Nahrung, die nicht «bio» ist? Sind nicht alle Pflanzen organisch?

Nicht alle Pflanzen werden künstlich gedüngt.
Den Pflanzen ist es egal, ob sie mit Mist oder Kunstdünger behandelt werden. Beides ist letztlich Stickstoff.

Vaclav Smil im Gespräch mit Bill Gates

Was ist mit den Pestiziden?
Es kommt auf die Dosierung an. Wenn ich eine Dosierung wähle, die abgebaut wird, bevor die Pflanze verzehrt wird, warum soll das schädlich sein? Ist es nicht sinnvoller, vernünftig Pestizide einzusetzen als zuzusehen, wie die Hälfte der Ernte von Insekten vernichtet wird? Pestizide werden nicht zum Vergnügen eingesetzt. Sie sorgen dafür, dass unsere Nahrung so billig geworden ist.

Was ist mit der Qualität der Bio-Produkte? Sie schmecken doch besser.
Wie kann ich diese Qualität überprüfen? Wann weiss ich, dass etwas «organisch» hergestellt wurde? Bio-Labels sind eine Einladung zum Betrug. Vor ein paar Wochen ist in den USA wieder einmal ein riesiger Betrugsfall mit angeblich kalt gepresstem Olivenöl aufgeflogen. Das einzig Echte an diesem Öl war der weit überrissene Preis.

«Den Pflanzen ist es egal, ob sie mit Mist oder Kunstdünger behandelt werden. Beides ist letztlich Stickstoff.»
Vaclav Smil

Wahrscheinlich ist es sinnlos, Sie zum Thema Gentech zu befragen.
Was soll daran schlimm sein? Es ist kein einziger Fall bekannt, wo ein Mensch wegen Gentech zu Schaden gekommen wäre. Aber über dieses Thema kann man nicht mehr rational diskutieren. Ich akzeptiere, dass es Menschen gibt, die Gentech des Teufels finden und versuche nicht mehr, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Was ist mit den Tieren? Haben nicht auch Hühner, Schweine und Rinder Anrecht auf ein artgerechtes Leben?
Kleinbauern können wirtschaftlich nicht mehr überleben. Das heisst nicht, dass wir Tierfabriken mit, sagen wir, 50'000 Schweinen betreiben müssen, 5000 reichen.

Auch 5000 müssen mit Hormonen und Antibiotika behandelt werden.
Ja, es ist das gleiche Problem wie bei den Pestiziden. Es kommt auf eine massvolle Dosierung an.

Sie haben die wachsende Arbeitslosigkeit junger Männer als eines der grössten Probleme bezeichnet. Warum kehren wir nicht zu einer natürlicheren Landwirtschaft zurück, in der diese Männer beschäftigt werden könnten?
Weil die Konsumenten nicht bereit sind, die höheren Kosten zu bezahlen, und weil die jungen Männer nicht bereit sind, diese Arbeit zu verrichten. Die meisten Bauern in Europa, aber auch in Japan, sind älter als 50.

Die wahren Kosten eines Hamburgers

Andererseits gibt es in den Städten eine grüne Gegenbewegung. Was ist mit Urban Farming?
Um Gottes Willen, hören Sie auf damit! Das ist totaler Blödsinn.

Warum? US-Städte wie Seattle und Portland betrachten Urban Farming bereits als Teil ihrer Stadtentwicklung. Im Paris des 19. Jahrhunderts ist der grösste Teil der Nahrung auf Stadtgebiet angepflanzt worden, in Wien ist der Anteil heute noch gross.
Man kann höchsten einen kleinen Teil der pflanzlichen Nahrung mit Urban Farming abdecken. Aber was ist mit Fleisch? Selbst wenn Sie wenig davon essen – was ich sehr empfehle –, wie wollen Sie Rinder und Schweine in einer Stadt halten? Die Zukunft der Ernährung liegt nicht auf dem Dach eines Wolkenkratzers, Sie liegt in den endlosen Soja- und Getreidefeldern, wie man sie in Brasilien und der Ukraine sieht, oder in den riesigen Rinderherden, wie man sie in Argentinien antrifft.

«Ich akzeptiere, dass es Menschen gibt, die Gentech des Teufels finden und versuche nicht mehr, sie vom Gegenteil zu überzeugen. »
Vaclav Smil

Wirklich? Es gibt auch sehr intelligente Menschen, die mit sehr einleuchtenden Gründen genau das Gegenteil behaupten. Sie sagen, den kleinen Bio-Farmern gehört die Zukunft.
Wo bitte sind diese Bio-Kleinbauern?

In der Schweiz haben wir noch ein paar davon.
Schweizer Bauern sind Folklore. Sie sind Landschaftspfleger, keine Bauern mehr im modernen Sinn. Sie sorgen dafür, dass die Landschaft nett aussieht. Nahrungsmittel könnten die Schweizer viel billiger im Ausland kaufen.

Die Menschen wollen aber zunehmend Produkte, die aus ihrer Umgebung stammen, lokalen Käse, lokales Fleisch.
Okay, okay. Sie sollen ihren lokalen Käse haben. Aber das ist ein minimer Teil der gesamten Ernährung. Woher nehmen Sie das Getreide für Ihre Pasta? Wenn Sie wirklich gute Pasta machen wollen, brauchen Sie Getreide aus Kanada. Woher stammt Ihr Rindfleisch? Es gibt kein Land mehr auf der Welt, das sich selbst ernähren könnte. Die Vorstellung ist lächerlich geworden. Selbst die Vereinigten Staaten importieren Lebensmittel.

Landwirtschaft im Umbruch

Was haben Sie für ein Verhältnis zu Lebensmitteln? Kochen Sie selbst?
Jeden Tag. Kochen heisst, sich engagieren. Es braucht Zeit. Die meisten Menschen haben diese Zeit nicht oder wollen sie sich nicht nehmen. Daher greifen sie zum Convenience Food. Wirklich gutes Essen heisst: lange garen, fermentieren. Denken Sie an Sauerkraut oder Bier. Wer zum Teufel macht solche Dinge heute noch selbst?

Es gibt aber zunehmend Wissenschaftler, die sagen: Wir müssen umstellen, es geht nicht mehr weiter so.
Es wird noch lange so weiter gehen, viel länger, als Sie glauben. ​

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