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Wenn das Fehlen eines Hochschulabschlusses tödlich wird

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Ein Drogensüchtiger in Cincinnati wird von einem Feuerwehrmann behandelt.Bild: AP

Wenn das Fehlen eines Hochschulabschlusses tödlich wird

Das Ökonomen-Ehepaar Anne Case und Angus Deaton zeigt in seinem Buch «Death of Despair» auf, weshalb weisse Männer ohne ausreichende Schulbildung Opfer von Selbstmord, Alkohol und Drogen werden.
19.07.2020, 10:1120.07.2020, 09:59
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In Zürich sei es für Kinder aus weniger privilegierten Familien «praktisch unmöglich, die begehrten Plätze an den Gymis zu ergattern», meldete kürzlich der «Tages-Anzeiger» und stützte sich dabei auf eine Studie über die Zulassungsquote für Langzeitgymnasien.

Dass hierzulande vor allem Akademiker ihren Nachwuchs notfalls mit Lernstudios und Privatlehrern zur mittleren Reife prügeln, ist bekannt. Doch dank der Kombination von Lehre und Fachhochschulen ist in der Schweiz ein Universitätsabschluss keine Voraussetzung für ein anständiges Mittelstands-Leben. Sowohl was Einkommen als auch was Sozialprestige betrifft, kann ein gut ausgebildeter Facharbeiter locker mithalten.

Ganz anders sieht es in den USA aus. Dort ist der Bachelor, der College-Abschluss, im wahrsten Sinn des Wortes überlebenswichtig geworden. «Ein Vier-Jahres-Abschluss ist zum Schlüssel für den sozialen Status geworden», stellen Anne Case und Angus Deaton fest. «Es ist, als ob Leute ohne diesen Abschluss eine Plakette tragen müssten, auf der die beiden Buchstaben BA mit einer roten Linie durchgestrichen sind.»

Anne Case und Angus Deaton
https://princetoninfo.com/deaths-of-despair-in-the-time-of-coronavirus/
Anne Case und Angus Deaton.Bild: Princeton.edu

Case/Deaton sind ein renommiertes Ökonomen-Ehepaar, Deaton wurde gar mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. (Bitte schreibt keine Kommentare, es sei kein richtiger Nobelpreis. Wir wissen das inzwischen.) In ihrem Buch «Death of Despair» (Tod wegen Verzweiflung) zeigen sie die neue Trennlinie auf, die durch die amerikanische Gesellschaft geht. Diese separiert nicht mehr Klassen, auch nicht mehr Arbeiter im Blaumann von Bürolisten, sie trennt Gewinner (mit BA) und Verlierer (ohne BA).

Die Trennung betrifft primär weisse Männer. Diese Bevölkerungsgruppe ist speziell von der Drogenkrise betroffen, die seit ein paar Jahren in den USA grassiert. Allein im Jahr 2017 sind rund 70’000 Verzweiflungstote gezählt worden, Menschen, die entweder Selbstmord begangen haben oder an einer tödlichen Mixtur von Alkohol und Opiaten gestorben sind.

Das Buch des Ökonomen-Ehepaars macht verständlich, weshalb sich junge Amerikaner über beide Ohren verschulden, um in den Besitz des BAs zu kommen. Wie absurd diese Bemühungen geworden sind, zeigt das Interview, das watson kürzlich mit Shawn Vales geführt hat (siehe unten).

Für den BA gibt es zunächst mal wirtschaftliche Gründe. In der Periode zwischen 1979 und 2017 ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in den USA um 85 Prozent gestiegen. Doch wer keinen BA besitzt, musste im gleichen Zeitraum einen Verlust von durchschnittlich 13 Prozent hinnehmen.

Die Amerikaner erleben gemäss Case/Deaton eine Art verkehrte Robin-Hood-Wirtschaft. Die Reichen stehlen von den Armen. «Politischer Einfluss wird für persönliche Bereicherung missbraucht», stellen sie fest. «In der Ökonomie ist dieser Tatbestand unter dem Begriff ‹politische Rente› bekannt.»

Die aktuelle Verzweiflungstod-Welle hat in den USA zu einem seltenen Ereignis geführt, zu einer sinkenden Lebenserwartung. «Jeder Rückgang der Lebenserwartung ist extrem ungewöhnlich», so Case/Deaton. «Mit einem Rückgang über die Zeitspanne von drei Jahren befinden wir uns auf ungewohntem Terrain.»

Weisse Männer zwischen 40 und 50 sind von dieser Entwicklung besonders betroffen. Warum gerade sie? Zynisch gesagt, weil sich die Farbigen seit längerem Armut und Diskriminierung gewohnt sind. In den Achtziger- und Neunzigerjahren waren vor allem Schwarze die Opfer der Crack-Epidemie.

Buchcover «Tightrope» von Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn.
Schildert die Zustände der weissen Unterschicht: «Tightrope» von Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn.Bild: Amazon

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in den USA eine «Arbeiter-Aristokratie». Selbst einfache Arbeiter verdienten genug, um sich ein Häuschen und ein Auto zu leisten und ihre Kinder ins College zu schicken. Davon kann heute ein Arbeitnehmer ohne BA nur träumen. Er muss sich im schlimmsten Fall mit einem Mindestlohn von 7,25 Dollar über die Runden schleppen und hat – wie heisst es doch so schön – zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.

Eine Familie zu gründen, ist so ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Ohne BA hat man auf dem Heiratsmarkt keine Chancen. Ein Gelegenheitsjob löst den anderen ab, oft unterbrochen durch Gefängnisaufenthalte. Mit wechselnden Partnerinnen werden Kinder gezeugt, welche die Väter später kaum je zu Gesicht bekommen. Ein Leben mit einem durch den Job geordneten Ablauf ist kaum mehr möglich.

Bücher wie «Hillbilly Elegy» von J.D. Vance und «Tightrope» von Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn beschreiben ausführlich das Elend der verarmten Weissen in den ehemaligen Industrieregionen. Case/Deaton liefern den ökonomischen Hintergrund dazu.

Zur finanziellen Not gesellt sich der körperliche Schmerz. «Gemäss der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine leiden mehr als 100 Millionen Amerikaner an chronischen Schmerzen», stellen Case/Deaton fest. Eine überdurchschnittlich hohe Zahl von ihnen gehört der verarmten weissen Unterschicht an.

Unglaublicher Zynismus der Pharmaindustrie und unglaubliche Naivität der Gesundheitsbehörde haben daraus Profit gezogen und die Opiat-Krise verursacht. Firmen wie Purdue und Johnson & Johnson haben opiathaltige Medikamente gegen Schmerzen auf den Markt gebracht und aggressiv vermarktet. Das bekannteste davon ist das inzwischen berüchtigte OxyContin. Es konnte jahrelang als gewissermassen legales Heroin unter die Leute gebracht werden.

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Hat unsägliches Leid verursacht: Das Schmerzmittel OxyContin.Bild: AP/AP

Inzwischen ist OxyContin verboten, doch die Süchtigen sind geblieben. Sie sind auf Heroin oder das noch gefährlichere Fentanyl umgestiegen. Die Drogenepidemie hat inzwischen ein so grosses Ausmass angenommen, dass Präsident Trump den Notstand ausrufen musste.

Ein dysfunktionales Gesundheitssystem verschlimmert die Not zusätzlich. Rund die Hälfte der Amerikaner sind via ihren Arbeitgeber krankenversichert. Wer seinen Job verliert, verliert auch seinen Schutz. In der aktuellen Coronakrise ist dies Millionen von Amerikanern passiert.

Wegen überrissener Arzthonorare und Medikamentenpreise ist das amerikanische Gesundheitswesen das teuerste der Welt. Es verschlingt etwa 18 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandprodukts oder gegen 11’000 Dollar pro Kopf und Jahr. Diese gewaltigen Kosten müssen finanziert werden, und zwar auf Kosten der Löhne der Arbeitnehmer.

Diese Kosten haben inzwischen ein so grosses Ausmass angenommen, dass Case/Deaton sie mit den Reparationszahlungen der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg vergleichen.

FILE - In this Friday, April 12, 2019 file photo, Cheryl Juaire, of Marlborough, Mass., center, leads a protest near the Arthur M. Sackler Museum at Harvard University, in Cambridge, Mass. Harvard Uni ...
Proteste gegen die Eigentümer von Purdue: die Sackler-Familie.Bild: AP

«Death of Despair» macht das Phänomen Trump verständlich. Die BA-losen weissen Männer sehen in ihm die Verkörperung der Rache an der verhassten Elite. Deshalb kann der Präsident so vulgär sein, wie er will. Er kann lügen, dass sich die Balken biegen. Hauptsache, er zahlt es den Gebildeten heim.

Das Buch zeigt auch auf, wie kaputt der amerikanische Arbeitsmarkt ist, wie absurd die Universitätsgebühren geworden sind und wie dysfunktional das Gesundheitswesen mittlerweile ist. Case/Deaton sind keine sozialistischen Systemveränderer. Doch auch sie kommen zum Schluss:

«Nicht nur die radikale Linke macht sich Sorgen über die Zukunft des Kapitalismus und der Demokratie in Amerika. Es gibt eine Flut von Büchern nicht nur von notorischen Kritikern, sondern auch von ehemaligen Verteidigern des Systems, von erfolgreichen Unternehmern und mächtigen Ex-Politikern.»

Schliesslich macht das Buch auch verständlich, weshalb ein konservativer Wirtschaftshistoriker wie Harold James den Zustand der USA mit dem Niedergang der Sowjetunion vor ihrem Zerfall vergleicht.

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126 Kommentare
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Bruno Wüthrich
19.07.2020 10:39registriert August 2014
Ja, die USA galten mal als Vorbild für die Welt. Ob dies zu irgendeiner Zeit gerechtfertigt war, lasse ich offen.

Klar ist, dass es heute nicht (mehr) so ist.
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Fretless Guy
19.07.2020 10:37registriert Juli 2018
Die Studierten sind dafür oft über Jahre und Jahrzehnte verschuldet bis unter die Decke. Ich bin wirklich froh und dankbar dafür, dass ich in der Schweiz lebe. Ich war vor vielen, vielen Jahren mal ein paar Monate "drüben" und wollte dort etwas erreichen. Heute bin ich froh, dass es damals und auch später, als ich erneut die Gelegenheit dazu hatte, nicht geklappt hat.
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Ökonometriker
19.07.2020 10:31registriert Januar 2017
Man kann in den USA durchaus auch für wenig Geld studieren. Gerade für die Unterschicht ist die Ivy-league ohnehin auch aus anderen Gründen sehr schwer zu erreichen. Aber einen Bachelor und Wissen gibts auch an weniger berühmten Unis.

Doch wenn der Vater abgehauen und die Mutter Alkoholikerin ist, haben Kinder eben andere Interessen als akademische Fortbildung.
Das Problem ist damit komplexer, nicht nur finanziell. Es läuft am Ende darauf hinaus, dass ein Sozialstaat zur Wohlfahrtsmaximierung notwendig ist. Und das erschüttert die Grundfesten des amerikanischen Menschenbildes.
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