Im schweizerischen Lavigny baumelte 1457 eine Sau am Galgen, weil sie ein Kind gefressen hatte. Ihre sechs mitschuldigen Ferkel wurden aufgrund ihrer Jugend freigesprochen. Ein Hahn wurde 1474 auf dem Kohlenberg zu Basel verbrannt – «für das abscheuliche und unnatürliche Verbrechen, ein Ei gelegt zu haben».
1451 wurden in Lausanne die Blutegel im Genfersee durch ein geistliches Strafverfahren ausgewiesen, doch als die Biester trotz dreimaliger Androhung der Exkommunikation das Urteil weiterhin ignorierten, wurden sie totgeschlagen. Ein Dresdner Pfarrer nervte sich 1559 derart über das «verdriesslich grosse Geschrei» der Sperlinge, die seinen Gottesdienst störten, dass er den Kirchenbann über sie verhängte.
Berichte über Tierprozesse und Hinrichtungen im Europa des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit gibt es einige – und ihre letzten Auswüchse finden sich noch bis ins 20. Jahrhundert. Zum Beispiel in den USA: Taro, ein 50 Kilo schwerer Hund der japanischen Rasse Akita Inu, sass drei Jahre im Hochsicherheitsgefängnis von New Jersey. Der Sheriff wollte Taro tot sehen – weil er seine Nichte gebissen hatte. Das war 1991. Der Hund wurde begnadigt. Es ist der letzte Fall, in dem ein Tier von einem US-Gericht für schuldfähig gehalten wurde.
Im Mittelalter aber bekamen viele Tiere, die einen Menschen verletzt oder getötet hatten, einen ordentlichen Prozess – ihnen wurden sogar Anwälte zur Seite gestellt, Zeugen wurden befragt und der Scharfrichter vollzog das Urteil. Jetzt ist es aber nicht einfach so, dass die Menschen dieser düsteren Zeit derart blöd waren anzunehmen, Tiere seien Rechtssubjekte, die für ihre Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten.
Bereits im 13. Jahrhundert hat es Kritiker von Tierprozessen gegeben, die den Nutzen dieses Brimboriums ganz und gar nicht sahen:
Auch für den bedeutendsten Krichenvater des Mittelalters – Thomas von Aquin – entbehrten die Tiere eines freien Willens, eines rationalen Geistes und einer (unsterblichen) Seele.
Doch im Volksglauben war die Grenze zwischen Mensch und Tier verschwommen: In dieser Welt gab es Werwölfe und das Böse konnte sich in allen möglichen Formen manifestieren – ganz besonders gern im Schwein:
1386, in der französischen Stadt Falaise: Eine Sau frisst das Gesicht des drei Monate alten Jonnet le Macon, als er in seinem Bettchen liegt. Der Kleine stirbt an den Folgen der Verletzungen. Dem Schwein wird der Prozess gemacht, und es wird nach dem «ius talionis» auf die gleiche Weise verstümmelt wie das Kind – «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Danach wird es angekleidet, vom Scharfrichter auf den Platz der Gerechtigkeit geschleppt und dort vor den Augen der Bürger und derer der Schweine, die durch das Schicksal ihrer Schwester abgeschreckt werden sollten, gehängt.
Die Kleider des Schweins mögen allerdings eine nette Erfindung gewesen sein, um den volksbelustigenden Charakter der Hinrichtung noch zu verstärken. Neben dem hohen Unterhaltungsgrad, den so ein morbides Spektakel für den mittelalterlichen Zuschauer haben musste, erfüllte ein solcher Tierprozess aber noch eine andere Funktion: Den der Wiederherstellung des sozialen Friedens.
Ein kleines Kind wurde getötet, und diese Schuld durfte nicht ungesühnt bleiben. Der Schuldige, das Schwein, wurde in einem ordentlichen Prozess verurteilt und öffentlich hingerichtet. Das Gericht hatte damit wieder Ordnung geschaffen.
Hinzu kam der Umstand, dass das Kind nicht nur getötet, sondern dass das Schwein Teile von ihm gefressen hatte. Das steht so nicht im göttlichen Schöpfungsplan. Der Mensch soll sich vom Schwein, nicht das Schwein vom Menschen ernähren. Das war ein klarer Beweis für die teuflische Bosheit des Tiers. Und ässe ein Mensch vom Fleisch dieses Schweins, würde er selbst zum Kannibalen. Auch deshalb war es unausweichlich, das Tier zu töten.
Bereits die Bibel verlangte diese Handhabung:
Im Schwabenspiegel – einem um 1275 entstandenen Rechtsbuch – findet sich dieselbe Regelung wieder:
Während die Aburteilung und Hinrichtung einzelner straffällig gewordener Tiere in die Kompetenz des weltlichen Gerichts fiel, waren die Prozesse gegen Insekten, Mäuse und Ratten Sache der Kirche.
Die Bewältigung solcher existenzbedrohender Katastrophen, wie es eine Ratten- oder Heuschreckenplage für die mittelalterlichen Menschen bedeutete, war ohne Gottes Hilfe unvorstellbar. Damit man diese aber bekam, musste im Verfahren festgestellt werden, ob das Ungeziefer den göttlichen Schöpfungsplan missachtete, oder ob es gar von Gott auf die Erde gesandt wurde – als Strafe für den sündigen Menschen. Nur diabolische Tiere durften verurteilt werden.
Die Käfer, die sich 1516 an den Reben nahe der französischen Stadt Troyes vergingen, bekamen vom bischöflichen Gericht folgende Ermahnung:
Um Schädlinge pauschal zu exorzieren, verfasste der Bischof von Lausanne 1452 folgende Formel:
1522 wurden die Ratten der französischen Provinz Autun, die «mutwillig die Gersteernte» zerstört hatten, vor Gericht zitiert. Ihr Verteidiger aber entschuldigte die Ratten mit dem Hinweis auf die gefährliche Anreise seiner Klienten – ihre tödlichen Feinde, die Katzen, würden doch auf dem Wege auf sie lauern.
Es scheint bei diesen Fällen tatsächlich erwartet worden zu sein, dass Tiere die menschliche Sprache verstehen, ja, dass sie sogar auf einen bestimmten Termin vor Gericht erscheinen oder das von ihnen verwüstete Land verlassen. Glaubten diese frommen Geistlichen vielleicht, das göttliche Recht, das durch sie zur Anwendung kam, würde den Tieren ungeachtet ihres fehlenden Verstandes einen solchen Eindruck machen, dass sie das Feld räumten?
Oder dachte man sich einfach: Wenn schon ein so modernes Instrument wie ein formalisiertes Prozessverfahren besteht, warum wenden wir es nicht auch gegen die Gefahren der Natur an?
Solche Tierprozesse geben der Forschung Rätsel auf und die Lösung findet sich wahrscheinlich irgendwo zwischen Aberglauben, alttestamentarischen Geboten und dem starken und letztlich zeitlosen Bedürfnis, nach geschehenem Unrecht jemanden – und sei es ein Tier – dafür büssen zu lassen.