2.6 Millionen Menschen in der Schweiz gehören gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zur Coronarisikogruppe. Menschen über 65 Jahre mit und ohne Vorerkrankung, Diabetiker, Asthmatiker, Herz-Kreislauf- und Krebspatienten sowie jene mit Bluthochdruck.
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Diese hohe Zahl ist erschreckend und verunsichert viele. Stimmt diese Zahl, wäre fast ein Drittel der Schweizer Bevölkerung betroffen und noch länger den einschränkenden Massnahmen ausgesetzt.
Die Umfrage bei den verschiedenen Fachärzten und Gesellschaften zeigt, dass eine genaue Zahl an Risikopatienten nicht ausfindig zu machen ist. Vieles ist wissenschaftlich noch unklar, wenn es um den Zusammenhang des Coronavirus mit einer Erkrankung geht. Zu reden gibt vor allem die Einteilung gesunder Menschen über 65 Jahre in die Risikogruppe.
Eine Auslegeordnung.
Auch Asthmatiker gelten als Risikopersonen. Gemäss der Lungenliga Schweiz haben zwei bis acht Prozent der Bevölkerung Asthma, davon aber nur ein kleiner Teil schweres Asthma. Wie viele genau, weiss man nicht. Die Lungenliga schätzt, dass 95 Prozent der rund 400'000 Asthmapatienten nicht besonders durch das Coronavirus gefährdet sind. Denn ein erhöhtes Coronarisiko haben nur die schweren Asthmafälle und nicht jene, die an einer saisonalen Asthmaerkrankung leiden.
Dass alle Krebspatienten zur Risikogruppe gezählt werden, ist für den St. Galler Onkologen Thomas Cerny eine verständliche Vorsichtsmassnahme. Vor allem dann, wenn Krebstherapien noch laufen, bis rund drei Monate nach Abschluss. Dann erholt sich das Immunsystem weitgehend. Zuvor geht man bei Leukämien, Lymphdrüsenkrebs, Multiplem Myelom oder bei sehr fortgeschrittenen Krebserkrankungen davon aus, dass das Immunsystem geschwächt und anfällig für Covid-19 ist.
Auf der Website der Rheumaliga steht, dass bei Rheumapatienten die Infektion mehrheitlich milde verläuft. Die Datenlage sei noch sehr dünn, sagt die Rheumaliga, man stütze sich auf die Beurteilung des BAG. Das Immunsystem vieler Rheumapatienten sei geschwächt, darum sei auch ein schwerer Verlauf bei Covid-19 möglich. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung leiden an Immunerkrankungen wie Rheuma, davon gehöre ein grosser Anteil zur Risikogruppe.
Wer heute 65 Jahre alt wird, gehört ab sofort zur Coronarisikogruppe, auch wenn er sich immer noch gleich gesund fühlt wie gestern. 536'000 Menschen über 65 ohne Vorerkrankungen zählt das Bundesamt für Gesundheit zur Risikogruppe. Diese starre Altersgrenze möchte Pro Senectute Schweiz diskutieren. Die Gruppe gefährdeter Personen soll nicht allein aufgrund eines einzigen Kriteriums, also jenem des Alters, definiert werden.
Für Pro Senectute gehören nicht alle Senioren in die Risikogruppe. «Falls bei den künftigen Massnahmen und Verordnungen starr am Alterskriterium festgehalten wird, riskiert man den ungerechtfertigten Ausschluss eines Teils der Pensionierten aus dem öffentlichen Leben. So häufen sich leider Meldungen von Seniorinnen und Senioren, die in diskriminierender Weise angegriffen werden», sagt Tatjana Kistler Medienverantwortliche von Pro Senectute. Nur mit Vorerkrankung zur Risikogruppe Auch über 65-Jährige sollen nur zur Risikogruppe gezählt werden, wenn sie zusätzlich eine Vorerkrankung haben oder die wissenschaftliche Basis eindeutig ist.
Die Zahl von 536'000 Menschen basiert auf einer Gesundheitsbefragung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). «Dies ist eine Schätzung und wie immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden», sagt Daniel Dauwalder vom BAG. Das erklärt allerdings nicht, warum diese 536'000 Senioren ohne Vorerkrankung als Risiko gelten. Dauwalder entgegnet, aus Italien sei bekannt, dass mehr als ein Viertel der Covid-19-Patienten über 60 Jahre, die auf der Intensivstation künstlich beatmet werden mussten, keine Vorerkrankungen aufwiesen.
Generell zeigten die Untersuchungen in China und Italien, dass Personen über 65 vermehrt schwere Verläufe und Komplikationen erlitten. Auch in der Schweiz ist der grösste Teil der an Covid-19 Verstorbenen über 65 Jahre alt. Das sind aber vor allem Menschen über 65 mit Vorerkrankungen. Und diese werden zu Recht der Risikogruppe zugeteilt. Wie viele von den 536000 gesunden Senioren wirklich ein Coronarisiko haben, ist nicht bekannt.
In der Schweiz haben etwa 1.5 Millionen Menschen einen zu hohen Blutdruck. Diese gehören nicht alle zur Risikogruppe, wie Isabella Sudano vom Universitätsspital Zürich erklärt. «Es gibt keine Daten, die zeigen, dass Bluthochdruck per se ein Problem bei einem Coronavirus-Infekt ist». Menschen, die ihren Blutdruck medikamentös unter Kontrolle haben, sind nicht automatisch Risikopersonen.
Bluthochdruck ist aber vor allem auch eine Alterserscheinung. 70 bis 80 Prozent der Hypertoniepatienten in der Schweiz sind älter als 65 und werden somit sowieso der Risikogruppe zugeordnet. «Nicht wegen der Hypertonie, sondern wegen des Alters», sagt die Präsidentin der Society of Hypertension. Hypertoniepatienten im Alter von 40 seien wegen der Zuteilung zur Risikogruppe oft etwas beleidigt. Zur Risikogruppe gehören nach Sudano und auch gemäss dem BAG Patienten, die Bluthochdruck haben, der sich nicht medikamentös behandeln lässt. Das sind etwa 20 Prozent der Hypertoniepatienten. Ein höheres Coronarisiko haben Bluthochdruckpatienten, bei denen weitere Risikofaktoren dazukommen: zum Beispiel Rauchen und Diabetes.
Das Risiko eines schweren Verlaufs bei Covid-19 ist zudem bei Menschen höher, die Bluthochdruck und einen Organschaden aufweisen: ein zu grosses Herz, Vorhofflimmern oder Nierenprobleme. Rolle bei der Mortalität ist noch unklar Die Rolle von Bluthochdruck beim Verlauf von Covid-19 sei noch völlig unklar. Da vor allem ältere Menschen am Coronavirus sterben, haben diese logischerweise oft auch Bluthochdruck. Ob der Bluthochdruck bei der Mortalität aber eine Rolle spielt, sei nicht untersucht, sagt Sudano.
Dafür bräuchte es multivariate Analysen, welche die Bedeutung der verschiedenen Risikofaktoren herausfiltern. Kleine Studien in diese Richtung zeigen, dass Hypertonie wohl keine signifikante Rolle spielt bei den Verläufen von Covid-19. Aber Bluthochdruck schädigt Herz und Gefässe, und dadurch kann der Verlauf der Infektion schlechter sein. Medikamente sollten auf keinen Fall abgesetzt werden.
Untersuchungen aus China zeigen, dass Diabetes ein Risikofaktor für einen schweren Verlauf einer Covid-Infektion ist. Separate Analysen für Patienten mit Diabetes Typ 1 und Typ 2 liegen noch nicht vor. Da grundsätzlich der Typ 2 (Altersdiabetes) verbreiteter ist, sind auch mehr der Coronapatienten daran erkrankt. «Wir gehen davon aus, dass das Risiko für einen schweren Verlauf der Covid-Erkrankung nicht wesentlich erhöht ist, wenn der Blutzucker eines Diabetespatienten gut eingestellt ist und keine Spätfolgen des Diabetes bestehen», sagt Stefan Bilz vom Kantonsspital St. Gallen. Dem trägt auch das BAG in der neuen Bewertung Rechnung. Ob man an Covid-19 erkrankt, wird durch Diabetes nicht beeinflusst. Wie jede Erkrankung, kann auch Corona die Diabeteseinstellung verschlechtern.
Welche Herz-Kreislauf-Patienten zur Risikogruppe gehören, kann gemäss dem Kardiologen Giovanni Pedrazzini heute nicht abschliessend beantwortet werden, da es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. Herz-Kreislauf-Kranke haben wahrscheinlich kein höheres Risiko, sich anzustecken, riskieren aber einen ernsteren Krankheitsverlauf. In gewissen Covid-19-Fällen ist eine Entzündung des Herzmuskels beobachtet worden. Auch ein Befall des Herzens ist möglich. (aargauerzeitung.ch)