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Showdown am Simplon

Auf ihrem Rückzug wollte die Wehrmacht das Südportal des Simplontunnels 1945 sprengen.
Auf ihrem Rückzug wollte die Wehrmacht das Südportal des Simplontunnels 1945 sprengen.Bild: Wikimedia / SBB Historic

Showdown am Simplon – wie Partisanen und der Schweizer Geheimdienst den Tunnel retteten

Am 22. April 1945 konnten italienische Partisanen gemeinsam mit dem Schweizer Geheimdienst die Sprengung des Simplontunnels verhindern. Den wollte die deutsche Wehrmacht zerstören.
10.05.2020, 11:0911.05.2020, 06:28
Raphael Rues / Schweizerisches Nationalmuseum
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Adolf Hitler ordnete am 19. März 1945 eine Taktik der verbrannten Erde an. Die vorrückenden Alliierten sollten auf eine möglichst unbrauchbare Infrastruktur treffen. Dazu gehörte auch das Südportal des Simplontunnels beim italienischen Dorf Varzo. Es sollte zusammen mit Elektrizitätswerken und Fabrikanlagen der Region Ossola gesprengt werden. Die Vorbereitungen dazu hatten bereits im November 1944 begonnen.

Eine Spezialeinheit mit rund 30 Wehrmachtssoldaten des Eisenbahn-Pionier-Bau-Bataillons 12 kümmerte sich um dieses Vorhaben. Die Männer hatten bereits nach der Wiederbesetzung des Ossolagebiets (siehe Box) die teilweise zerstörten Brücken und Viadukte wieder aufgebaut. Diese Soldaten stammten zum grössten Teil aus Österreich und verstanden ihr Handwerk. Allerdings waren sie wie die meisten Mitglieder der Wehrmacht demoralisiert und schlecht ausgerüstet.

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Das wenige Material – Kompressoren, Pumpen und verschiedene Werkzeuge – wurde immer wieder auch von Mitarbeitern der SBB, welche in Domodossola und Varzo stationiert waren, sabotiert. Innerhalb von vier Monaten gelang es ihnen deshalb nur, drei kleine Minenkammern beim Tunneleingang anzulegen. Da die Partisanen im Januar 1945 in das Gebiet rund um den Simplon zurückgekehrt waren, kam es sporadisch zu Scharmützeln, was die Arbeiten zusätzlich erschwerte.

In diesem Bahnhäuschen in Varzo wurde ein Teil des Sprengstoffs gelagert, der im April 1945 vernichtet wurde.
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In diesem Bahnhäuschen in Varzo wurde ein Teil des Sprengstoffs gelagert, der im April 1945 vernichtet wurde. Bild: insubricahistorica.ch

Schweizer Geheimdienst mitten drin

Das Vorhaben der Deutschen war auch dem Schweizer Nachrichtendienst nicht entgangen. Dieser hatte ein engmaschiges Spionagenetz in der Region aufgebaut. Neben Angestellten der Bundesbahn fungierten Händler, Hoteliers oder Postbeamte als Informanten. Der prominenteste Vertreter des Geheimdienstes war der 30-jährige Peter Bammatter. Der Walliser war offiziell Vizedirektor des Schweizer Zollamts in Domodossola. Das war jedoch nur eine Tarnung. Bammatter war eigentlich Hauptmann des Geheimdienstes und in dieser Funktion die eigentliche Schweizer Informationsdrehscheibe der Region.

Als die Wehrmacht mit den Vorbereitungen für die Tunnelsprengung begann, reagierten Bammatter und der Nachrichtendienst sofort und erkundeten die Lage. Da sich die deutschen Soldaten abends samt Ausrüstung nach Varzo zurückzogen, konnten sich die Schweizer während der Nacht ein genaues Bild machen. Besonders dank Paul Bardet, einem SBB-Ingenieur und Hauptmann der Armee aus Sitten, kannte man die Situation sehr genau. Bardet wagte sich von Brig aus mehrmals in den Tunnel und erstellte nach diesen Erkundungstouren jeweils sehr detaillierte Berichte.

Die Lage war ernst, aber nicht aussichtslos. Insgesamt waren rund 400 Tonnen veraltete Marinegeschosse, die immer noch Sprengstoff enthielten, nach Varzo und zum Tunnel transportiert worden. Da den Wehrmachtssoldaten aber das nötige Werkzeug und Wissen fehlte, um gezielte Bohrungen vorzunehmen, schätzte der Schweizer Nachrichtendienst das Risiko einer völligen Zerstörung als eher klein ein. Trotzdem sollte die Detonation verhindert werden. Im März nahm Peter Bammatter deshalb Kontakt zu den italienischen Widerstandskämpfern auf.

Marinegeschosse beim Bahnhof von Varzo. Einige waren bis zu 150 Kilogramm schwer.
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Marinegeschosse beim Bahnhof von Varzo. Einige waren bis zu 150 Kilogramm schwer.Bild: insubricahistorica.ch
Karte des Partisanenangriffs vom 22. April 1945 in Varzo.
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Karte des Partisanenangriffs vom 22. April 1945 in Varzo.Karte: insubricahistorica.ch

Infos für die Partisanen, Wein für die Deutschen

Während die Partisanen mit Informationen über die deutschen Zerstörungspläne versorgt wurden, bearbeitete Bammatter auch die Soldaten der Wehrmacht. Der Krieg war verloren und viele waren demoralisiert. Das ermöglichte inoffizielle Gespräche mit einem Teil dieser Männer. Der Schweizer Geheimdienstler hatte ausserdem interessante «Argumente» im Gepäck, welche die Überzeugungsarbeit erleichterten. Der Nachrichtendienst kaufte auf dem Schwarzmarkt in Domodossola Zigaretten, Wein und Lebensmittel. Diese Geschenke wurden den Deutschen zugespielt. Gleichzeitig versuchte Peter Bammatter die Soldaten von der Sinnlosigkeit der Tunnelsprengung zu überzeugen.

In den frühen Morgenstunden des 22. Aprils 1945 griffen die Partisanen schliesslich an. Ihr Ziel war es, den gesamten Sprengstoff zu vernichten. Weil ein Teil der Widerstandskämpfer den Weg zur Wehrmachts- und SS-Polizistengarnison in Varzo blockiert und der Schweizer Geheimdienst die Wachsoldaten zum Überlaufen überredet hatte, endete die Aktion ohne Verletzte und Tote. Um 4.30 Uhr steckten die Partisanen den Sprengstoff, der bei Varzo noch im Freien verteilt war, in Brand. Das Feuer war riesig und weitherum sichtbar.

Damit war die Gefahr einer Sprengung des Simplontunnels endgültig gebannt. Die Aktion hatte jedoch Schäden an der Bahninfrastruktur angerichtet. Repariert wurden diese von einem deutschen Eisenbahn-Pionier-Bau-Bataillon. Danach flohen die Soldaten in die Schweiz und liessen sich internieren.

SBB-Mitarbeiter Mario Rodoni (links), enger Mitarbeiter von Peter Bammatter, mit einem deutschen Soldaten in Varzo.
SBB-Mitarbeiter Mario Rodoni (links), enger Mitarbeiter von Peter Bammatter, mit einem deutschen Soldaten in Varzo.Bild: Casa della Resistenza, Fondotoce / Verbania
Die Republik Ossola
Im Herbst 1944 befreiten italienische Widerstandskämpfer ein grosses Gebiet in der Region Ossola und gründeten eine Partisanenrepublik. Nach 44 Tagen war das demokratische Experiment zu Ende. Deutsche Kampfverbände eroberten das Terrain zurück. Wer konnte, flüchtete in die Schweiz. Wie der Süden der Schweiz den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist in mehreren Blogartikeln nachzulesen:
Die Republik Ossola
Das Tessin im Zweiten Weltkrieg
Schmuggel während den Kriegsjahren
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Showdown am Simplon» erschien am 22. April.
blog.nationalmuseum.ch/2020/04/wehrmacht-will-simplontunnel-sprengen
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18 Kommentare
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Butzdi
10.05.2020 11:26registriert April 2016
Super Beitrag. Wieder was gelernt. Mehr bitte!
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Andi Weibel
10.05.2020 12:08registriert März 2018
Wie üblich sehr spannend!

Interessant fände ich, noch mehr über die Sabotage-Akte der SBB-Mitarbeiter zu erfahren. Mein Grossonkel hat mir berichtet, dass sie jeweils auch Sand in die Radlager der Wagen der Reichsbahn mischten, wenn sie sie in Basel abfertigten.

Der antifaschistische Widerstand der kleinen Leute in der Schweiz während dem Zweiten Weltkrieg ist ohnehin ein Kapitel der Geschichte, das man mal genauer aufarbeiten (und würdigen) müsste.
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homo sapiens melior
10.05.2020 11:43registriert Februar 2017
Spannend. Danke.
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