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Klima, Politik, Wirtschaft: Die 20er Jahre sind unsere letzte Chance

In this Saturday, Dec. 21, 2019, photo, NSW Rural Fire Service crew fight the Gospers Mountain Fire as it impacts a property at Bilpin, New South Wales state, Australia. Prime Minister Scott Morrison  ...
Apocalypse Now: Seit Wochen wüten Buschfeuer in Australien. Ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet?Bild: AP
Analyse

Die 20er-Jahre sind das Jahrzehnt der (vielleicht) letzten Chance

Die Welt befindet sich zum Auftakt eines neuen Jahrzehnts klimatisch, politisch und wirtschaftlich in einer prekären Lage. Wenn wir den Turnaround nicht schaffen, droht eine düstere Zukunft.
01.01.2020, 11:3202.01.2020, 08:10
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Als «goldene Zwanziger» wird das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts häufig verklärt. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs sowie schweren politischen und wirtschaftlichen Krisen – darunter die Hyperinflation in Deutschland – ging es ab 1924 bergauf. Wirtschaft und Kultur erlebten eine Blüte. Es war eine Zeit des «Anything goes» und der Lebensfreude – für jene, die es sich leisten konnten.

Die Party war ein Tanz auf dem Vulkan. Sie endete 1929 mit dem Börsencrash in New York und der Weltwirtschaftskrise. In Deutschland kamen die Nazis an die Macht. Stalins vermeintlich boomende Sowjetunion wurde von blauäugigen Bewunderern zum Vorbild erhoben. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: Der Zweite Weltkrieg übertraf an Horror alles Vorherige.

Der Erste Weltkrieg in Bildern

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Der Erste Weltkrieg in Bildern
Ein französischer Bunker an der Champagne-Front: Die Waffen, die den Ersten Weltkrieg zum Stellungskrieg gemacht und somit massgeblich bestimmt haben, waren ...
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Mit Geschichte ist es so eine Sache. Sie wiederholt sich nie im Massstab 1:1, ist aber auch kein linearer Prozess, bei dem es der Menschheit laufend besser geht, auch wenn dies oberflächlich betrachtet der Fall zu sein scheint. Auf grosse Fortschritte folgten katastrophale Rückschläge. Und derzeit deutet einiges darauf hin, dass wir uns wieder auf einen Kipppunkt zubewegen.

Die letzten Jahrzehnte waren besonders in der westlichen Hemisphäre eine Ära beispielloser politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Errungenschaften. Auch im Rest der Welt hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschheit ist zu Beginn dieser 20er-Jahre in einer wesentlich besseren Verfassung als vor 100 Jahren. Dennoch fällt es schwer, optimistisch zu bleiben.

Das Perfide an der heutigen Situation: Die Bedrohung beschränkt sich nicht auf einzelne Aspekte. Sie umfasst mehrere Lebensbereiche und ist häufig eher abstrakt. Wenn sie sich in geballter Form entlädt, steht die Zukunft unserer Spezies auf dem Spiel. Die Menschheit tanzt erneut auf einem Vulkan. Oder vielmehr auf einem Supervulkan. Das zeigt ein Blick auf drei bedeutende Aspekte:

Klima

Der frühere ETH-Professor und Klimaforscher Andreas Fischlin erläutert, was auf dem Spiel steht.Video: YouTube/umverkehR

Die Menschheit hat viel zu lange auf Kosten der Natur gelebt. In einzelnen Bereichen gelang es, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Bei der Klimakrise ist dies wesentlich schwieriger. Sie ist ein globales Phänomen. Und obwohl gerade das abgelaufene Jahr einen Bewusstseinsschub gebracht hat (Stichwort Greta), wollen viele das Ausmass der Bedrohung nicht wahrhaben.

Deshalb einige Basics: Die Menschheit holt nach wie vor in hoher Kadenz fossile Energieträger aus dem Boden und schleudert das darin während Jahrmillionen gespeicherte CO2 in die Atmosphäre. Dies hat gemäss den Gesetzen der Physik unweigerlich Folgen für das Weltklima. Wer dies bestreitet, könnte auch die Existenz des Universums leugnen.

Im letzten Jahr hat eine aufwändige Studie unter Leitung der Universität Bern einen deutlichen Befund ergeben: Im Gegensatz zu früheren Klimaschwankungen wie der Kleinen Eiszeit oder der Mittelalterlichen Warmzeit findet die aktuelle Erwärmung nicht zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten statt, sondern global und gleichzeitig.

«Es wird mit dem Klima schneller schlimmer, als sich das die Leute vorstellen können», mahnte der Unternehmer und Philanthrop Stephan Schmidheiny im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Man muss nur nach Australien schauen: Dort findet unsere Zukunft schon heute statt. Dennoch übt sich ein grosser Teil der Menschheit in Ignoranz. Der technologische Fortschritt soll es richten. Dabei lässt sich der Schaden bloss begrenzen. Und je länger es dauert, umso teurer wird es.

Politik

Video: srf

Die Euphorie über den Siegeszug der Demokratie nach dem Kalten Krieg ist längst verflogen. Heute befinden sich Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf dem Rückzug. Disruptive Entwicklungen wie Digitalisierung und Migration setzen die Demokratien unter Stress. Viele Menschen sind überfordert und anfällig für Nationalismus und Populismus.

Donald Trump und der Brexit werden als Paradebeispiele angeführt. Tatsächlich befindet sich die einstige Musterdemokratie USA in einem besorgniserregenden Zustand. In Europa gibt es ebenfalls bedenkliche Tendenzen, und die sozialen Medien wirken als Brandbeschleuniger. Linke wie Rechte verlieren alle Hemmungen und sprechen sich gegenseitig die Daseinsberechtigung ab.

Länder wie Indien und Israel, deren demokratische Kultur einst zurecht gerühmt wurde, driften ab in Richtung eines Ethno-Nationalismus, der Minderheiten ausgrenzt. Profiteure sind autoritäre Regime, allen voran China, das im Innern den totalen digitalen Überwachungsstaat aufbaut und aussenpolitisch seinen einstigen Rang als Weltmacht Nummer Eins zurückfordert.

China scheint die Maxime zu widerlegen, dass wirtschaftlicher Erfolg und wissenschaftlicher Fortschritt nur in einem freiheitlich-demokratischen Umfeld möglich sind. In seinem Windschatten trumpfen anderen Autokratien wie Russland und die Türkei auf. Der islamische «Halbmond» von Afrika bis zum Hindukusch ist eine Sphäre notorischer Instabilität und (atomarer) Kriegsgefahr.

Wirtschaft

Die grössten Spekulationsblasen und Börsen-Crashs

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Die grössten Spekulationsblasen und Börsen-Crashs
Der Tulpenwahn in den Niederlanden gilt als die Mutter aller Finanzkrisen. Schon im 16. Jahrhundert entwickelte sich dort ein blühendes Terminwarengeschäft mit Blumenzwiebeln.
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Oberflächlich betrachtet ist die Lage passabel bis gut. Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise wurde weit besser bewältigt als die Depression der 1930er Jahre. Die USA haben seither sogar die längste Boomphase ihrer Geschichte erlebt. Immer stärker zeigen sich jedoch die Nebenwirkungen der Kur: Null- und Negativzinsen sind keine Notmassnahme mehr, sondern ein Dauerzustand.

Das billige Geld treibt die Börsen zu Rekorden und liefert ideale Bedingungen für das Entstehen neuer Spekulationsblasen. In den USA betrifft dies etwa Autokredite und in der Schweiz den Immobiliensektor. Und jeder Aufschwung hat irgendwann ein Ende. Wie die im Zinsbereich «ausgeschossenen» Notenbanken auf eine Rezession reagieren wollen, ist eine offene Frage.

Unter Druck ist auch die Globalisierung. Protektionistische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Donald Trump versucht, gemäss seiner Doktrin des «America first» mit willkürlich verhängten Zöllen die Regeln des Handels zugunsten der USA zurechtzubiegen. Teil seiner «Strategie» ist die gezielte Schwächung der Welthandelsorganisation WTO und ihres multilateralen Regelwerks.

Ein ungelöstes Problem bleibt die enorme Ungleichheit bei der Verteilung von Wohlstand und Ressourcen, trotz grosser Fortschritte bei der Armutsbekämpfung. Sie ist ein Treiber der globalen Migrationsströme, die Nordamerika und Europa unter Dauerstress setzen und jenen Kräften Auftrieb verleihen, die auf Abschottung mit Mauern und Seeblockaden setzen.

Fazit

Es gibt weitere Entwicklungen, deren Auswirkungen ungewiss sind, etwa die Künstliche Intelligenz. Oder die Tatsache, dass wir die für unsere Vorfahren allgegenwärtige Bedrohung durch Kriege und Krankheiten verdrängt haben. Die Frage, die hier vor Jahresfrist gestellt wurde, ist unverändert angebracht: Gelingt uns die Rettung vor uns selbst? Oder sind wir ein Auslaufmodell?

Die 20er Jahre sind angesichts der vielfältigen und enormen Herausforderungen vielleicht das Jahrzehnt der letzten Chance, um der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass am 31. Dezember 2029 der Weltuntergang angesagt ist. Aber wenn wir unter diesen Bedingungen einen neuen historischen Kipppunkt erreichen, dürfte es ganz übel werden.

Ein grosser Krieg im Nahen und Mittleren Osten, verstärkte Migrationsbewegungen durch die Klimakrise, die Ausbreitung populistischer und «illiberaler» Regierungen in den Staaten Europas, die nicht mehr mit-, sondern gegeneinander arbeiten, eine nach der Wiederwahl von Donald Trump in bürgerkriegsähnliche Zustände abgleitende USA – Negativszenarien gibt es genug.

Die positive Message lautet: Wir können es schaffen, etwa wenn kein Geld mehr in fossile Energieträger fliesst, weil die Investition schlicht zu riskant ist. Oder das vermeintlich attraktive chinesische Modell an seinen gewaltigen Widersprüchen zerbricht. Die vielen Proteste rund um den Erdball 2019 erzeugen ebenfalls einen Funken Hoffnung.

Eine vorab junge Generation ist nicht mehr bereit, sich alles bieten zu lassen. Denn letztlich geht es um ihre Zukunft. Die Jungen von der Klimastreikbewegung bis zu den Freiheitskämpfern in Hongkong sind der beste Grund, nicht in Pessimismus zu versinken. Wenn jemand es richten kann, dann sind sie es.

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Proteste in Chile
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Proteste in Chile
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142 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Cirrum
01.01.2020 12:22registriert August 2019
Schade, wir könnten es alle so schön haben wenn der Mensch nicht so gierig und ein bisschen vorausdenkend wäre.. für mich sind wir wohl die dümmsten Lebewesen, einen so schönen Ort für uns in kürzester Zeit zu zerstören..
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Beggride
01.01.2020 12:38registriert November 2015
Auch wenn wir vielleicht das mit grossem Abstand am weitesten entwickelte Gehirn haben, kann man das Säugetier in uns nicht verleugnen oder überblenden. Und genau das wird uns schlussendlich selbst zerstören, weil unsere Technologien und Möglichkeiten sich im Vergleich zu unserer Spzies zu schnell entwickelt haben und wir damit nicht verantwortungsvoll umgehen können. So sind Greta Bashing oder Gedanken, wie "niemand nimmt mir MEIN Felisch weg" auch nicht anders zu erklären... Das mit dem Fleisch sollte nur ein Beispiel von vielen sein.
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Zeit_Genosse
01.01.2020 12:39registriert Februar 2014
⚠️ Ärmel hochkrempeln und auf gehts!

In der Tat und dem Tagwerk entscheidet sich was wir an Gegenwart und Gegenwert schaffen. Achtsam gelingt das Leben.
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