Als «goldene Zwanziger» wird das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts häufig verklärt. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs sowie schweren politischen und wirtschaftlichen Krisen – darunter die Hyperinflation in Deutschland – ging es ab 1924 bergauf. Wirtschaft und Kultur erlebten eine Blüte. Es war eine Zeit des «Anything goes» und der Lebensfreude – für jene, die es sich leisten konnten.
Die Party war ein Tanz auf dem Vulkan. Sie endete 1929 mit dem Börsencrash in New York und der Weltwirtschaftskrise. In Deutschland kamen die Nazis an die Macht. Stalins vermeintlich boomende Sowjetunion wurde von blauäugigen Bewunderern zum Vorbild erhoben. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: Der Zweite Weltkrieg übertraf an Horror alles Vorherige.
Mit Geschichte ist es so eine Sache. Sie wiederholt sich nie im Massstab 1:1, ist aber auch kein linearer Prozess, bei dem es der Menschheit laufend besser geht, auch wenn dies oberflächlich betrachtet der Fall zu sein scheint. Auf grosse Fortschritte folgten katastrophale Rückschläge. Und derzeit deutet einiges darauf hin, dass wir uns wieder auf einen Kipppunkt zubewegen.
Die letzten Jahrzehnte waren besonders in der westlichen Hemisphäre eine Ära beispielloser politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Errungenschaften. Auch im Rest der Welt hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschheit ist zu Beginn dieser 20er-Jahre in einer wesentlich besseren Verfassung als vor 100 Jahren. Dennoch fällt es schwer, optimistisch zu bleiben.
Das Perfide an der heutigen Situation: Die Bedrohung beschränkt sich nicht auf einzelne Aspekte. Sie umfasst mehrere Lebensbereiche und ist häufig eher abstrakt. Wenn sie sich in geballter Form entlädt, steht die Zukunft unserer Spezies auf dem Spiel. Die Menschheit tanzt erneut auf einem Vulkan. Oder vielmehr auf einem Supervulkan. Das zeigt ein Blick auf drei bedeutende Aspekte:
Die Menschheit hat viel zu lange auf Kosten der Natur gelebt. In einzelnen Bereichen gelang es, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Bei der Klimakrise ist dies wesentlich schwieriger. Sie ist ein globales Phänomen. Und obwohl gerade das abgelaufene Jahr einen Bewusstseinsschub gebracht hat (Stichwort Greta), wollen viele das Ausmass der Bedrohung nicht wahrhaben.
Deshalb einige Basics: Die Menschheit holt nach wie vor in hoher Kadenz fossile Energieträger aus dem Boden und schleudert das darin während Jahrmillionen gespeicherte CO2 in die Atmosphäre. Dies hat gemäss den Gesetzen der Physik unweigerlich Folgen für das Weltklima. Wer dies bestreitet, könnte auch die Existenz des Universums leugnen.
Im letzten Jahr hat eine aufwändige Studie unter Leitung der Universität Bern einen deutlichen Befund ergeben: Im Gegensatz zu früheren Klimaschwankungen wie der Kleinen Eiszeit oder der Mittelalterlichen Warmzeit findet die aktuelle Erwärmung nicht zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten statt, sondern global und gleichzeitig.
«Es wird mit dem Klima schneller schlimmer, als sich das die Leute vorstellen können», mahnte der Unternehmer und Philanthrop Stephan Schmidheiny im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Man muss nur nach Australien schauen: Dort findet unsere Zukunft schon heute statt. Dennoch übt sich ein grosser Teil der Menschheit in Ignoranz. Der technologische Fortschritt soll es richten. Dabei lässt sich der Schaden bloss begrenzen. Und je länger es dauert, umso teurer wird es.
Die Euphorie über den Siegeszug der Demokratie nach dem Kalten Krieg ist längst verflogen. Heute befinden sich Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf dem Rückzug. Disruptive Entwicklungen wie Digitalisierung und Migration setzen die Demokratien unter Stress. Viele Menschen sind überfordert und anfällig für Nationalismus und Populismus.
Donald Trump und der Brexit werden als Paradebeispiele angeführt. Tatsächlich befindet sich die einstige Musterdemokratie USA in einem besorgniserregenden Zustand. In Europa gibt es ebenfalls bedenkliche Tendenzen, und die sozialen Medien wirken als Brandbeschleuniger. Linke wie Rechte verlieren alle Hemmungen und sprechen sich gegenseitig die Daseinsberechtigung ab.
Länder wie Indien und Israel, deren demokratische Kultur einst zurecht gerühmt wurde, driften ab in Richtung eines Ethno-Nationalismus, der Minderheiten ausgrenzt. Profiteure sind autoritäre Regime, allen voran China, das im Innern den totalen digitalen Überwachungsstaat aufbaut und aussenpolitisch seinen einstigen Rang als Weltmacht Nummer Eins zurückfordert.
China scheint die Maxime zu widerlegen, dass wirtschaftlicher Erfolg und wissenschaftlicher Fortschritt nur in einem freiheitlich-demokratischen Umfeld möglich sind. In seinem Windschatten trumpfen anderen Autokratien wie Russland und die Türkei auf. Der islamische «Halbmond» von Afrika bis zum Hindukusch ist eine Sphäre notorischer Instabilität und (atomarer) Kriegsgefahr.
Oberflächlich betrachtet ist die Lage passabel bis gut. Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise wurde weit besser bewältigt als die Depression der 1930er Jahre. Die USA haben seither sogar die längste Boomphase ihrer Geschichte erlebt. Immer stärker zeigen sich jedoch die Nebenwirkungen der Kur: Null- und Negativzinsen sind keine Notmassnahme mehr, sondern ein Dauerzustand.
Das billige Geld treibt die Börsen zu Rekorden und liefert ideale Bedingungen für das Entstehen neuer Spekulationsblasen. In den USA betrifft dies etwa Autokredite und in der Schweiz den Immobiliensektor. Und jeder Aufschwung hat irgendwann ein Ende. Wie die im Zinsbereich «ausgeschossenen» Notenbanken auf eine Rezession reagieren wollen, ist eine offene Frage.
Unter Druck ist auch die Globalisierung. Protektionistische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Donald Trump versucht, gemäss seiner Doktrin des «America first» mit willkürlich verhängten Zöllen die Regeln des Handels zugunsten der USA zurechtzubiegen. Teil seiner «Strategie» ist die gezielte Schwächung der Welthandelsorganisation WTO und ihres multilateralen Regelwerks.
Ein ungelöstes Problem bleibt die enorme Ungleichheit bei der Verteilung von Wohlstand und Ressourcen, trotz grosser Fortschritte bei der Armutsbekämpfung. Sie ist ein Treiber der globalen Migrationsströme, die Nordamerika und Europa unter Dauerstress setzen und jenen Kräften Auftrieb verleihen, die auf Abschottung mit Mauern und Seeblockaden setzen.
Es gibt weitere Entwicklungen, deren Auswirkungen ungewiss sind, etwa die Künstliche Intelligenz. Oder die Tatsache, dass wir die für unsere Vorfahren allgegenwärtige Bedrohung durch Kriege und Krankheiten verdrängt haben. Die Frage, die hier vor Jahresfrist gestellt wurde, ist unverändert angebracht: Gelingt uns die Rettung vor uns selbst? Oder sind wir ein Auslaufmodell?
Die 20er Jahre sind angesichts der vielfältigen und enormen Herausforderungen vielleicht das Jahrzehnt der letzten Chance, um der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass am 31. Dezember 2029 der Weltuntergang angesagt ist. Aber wenn wir unter diesen Bedingungen einen neuen historischen Kipppunkt erreichen, dürfte es ganz übel werden.
Ein grosser Krieg im Nahen und Mittleren Osten, verstärkte Migrationsbewegungen durch die Klimakrise, die Ausbreitung populistischer und «illiberaler» Regierungen in den Staaten Europas, die nicht mehr mit-, sondern gegeneinander arbeiten, eine nach der Wiederwahl von Donald Trump in bürgerkriegsähnliche Zustände abgleitende USA – Negativszenarien gibt es genug.
Die positive Message lautet: Wir können es schaffen, etwa wenn kein Geld mehr in fossile Energieträger fliesst, weil die Investition schlicht zu riskant ist. Oder das vermeintlich attraktive chinesische Modell an seinen gewaltigen Widersprüchen zerbricht. Die vielen Proteste rund um den Erdball 2019 erzeugen ebenfalls einen Funken Hoffnung.
Eine vorab junge Generation ist nicht mehr bereit, sich alles bieten zu lassen. Denn letztlich geht es um ihre Zukunft. Die Jungen von der Klimastreikbewegung bis zu den Freiheitskämpfern in Hongkong sind der beste Grund, nicht in Pessimismus zu versinken. Wenn jemand es richten kann, dann sind sie es.
In der Tat und dem Tagwerk entscheidet sich was wir an Gegenwart und Gegenwert schaffen. Achtsam gelingt das Leben.